Wolfgang Herrndorf: „Arbeit und Struktur“

Ist das noch Literatur? Ja, und zwar Literatur der extremsten Art. Borderlinig. Wenn der Text zu Ende ist, ist es auch der Autor am Ende. Unter all den denkbaren Punkten, an denen Literatur an ihre Grenze stößt, ist der Tod des Autors der vielleicht am weitesten von unserem Literaturverständnis entfernteste Punkt.

Nach der Hirnkrebsdiagnose bloggt Herrndorn für seine Freunde. Und dokumentiert über Jahre hinweg … nicht sein Sterben, sondern sein Leben. Und die aus Publikumssicht Höhepunkte seines Schaffens, die Entstehung der drei Romane „Tschick“, „Sand“ und „Bilder meiner Liebe“.

Der Text ist witzig – wenn man z. B. über Seiten hinweg mögliche Titel für „Sand“ liest. Der Text lässt einen Partei ergreifen – zum Beispiel gegen den lärmenden Mitbewohner, der den Autor schier in den Wahnsinn treibt mit seiner viel zu lauten Musik zu jeder Tag- und Nachtzeit.

Der Text ist interessant, wenn man erfährt, wie Herrndorf arbeitet, welche Ansprüche an und Überlegungen zu seinen Texten er hat. Der Text reisst einen mit, hat einen hohen page turning-Faktor. Denn obwohl man weiß, wie es ausgeht, ist die Spannung immens. Insgeheim hofft der Leser, wie der Autor, dass es doch nicht so ausgeht, wie es ausgehen muss. Man will das Unvermeidlichen vermieden sehen.

Ja, der Text hat auch was von yellow press, denn man taucht auch ein in die Berliner Literatenszene. Und der Text ist voyeuristisch, lässt er einen doch am Sterben eines echten Menschen teilnehmen.

Der Text hat eine literarisch interessante Struktur, weil aus dem Flickenteppich der Blogeinträge ein Gesamtbild entsteht. Kein widerspruchsfreies Gesamtbild – beispielsweise, wenn der Autor nach Monaten erfahren muss, dass er und der von ihm so genossene arbeitsreiche Urlaub von seinen Mitreisenden ganz gegenteilig erlebt wurde.

Der Text nimmt Stellung zu großen Fragen der Zeit, – wenn Herrndorf sich schon sehr früh und immer wieder für die von ihm gewählte Selbstbestimmung im Tod stark macht.

Der Text ist ein großes literarisches Vermächtnis eines großen Autors, der vielleicht erst durch die Krebsdiagnose fähig war, sein Hauptwerk zu schaffen.

Der Text ist lesenswert – absolut!

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