Der Lesekreis hat diesmal vier Bücher mit der gemeinsamen Klammer „Lebensgeschichte“ gelesen. Vier Bücher recht unterschiedlichen Kalibers, zwei aus den fünfziger Jahren, zwei aus der jüngsten Gegenwart, zwei von deutschsprachigen Autoren, zwei von Amerikanern. Und zwar diese Texte:
Günter Grass: Katz und Maus
Eigentlich (oh, oh, wenn es so schon anfängt) bin ich ja Grass-Fan. War ich jedenfalls über lange Jahre. „Katz und Maus“ hat mir nun nicht so doll gefallen. Klar ist das eine „echter Grass“: Danziger Lokalkolorit, zweiter Weltkrieg, Deutschtümelndes und deftige Körperlichkeit. Na, man kennt Grass ja. Witzig, dass er auf sich selbst verweist. So läuft der kleine Matzerath mit seiner Blechtrommel gelegentlich durchs Bild. Daran delektiert sich der belesene Leser. Und obwohl es um fast nichts anderes, als um den Großen Mahlke und den Ich-Erzähler geht, blieb mir die Geschichte recht verschlossen. Hatte das Gefühl Wesentliches noch nicht bemerkt oder verstanden zu haben. Mehr noch aber hatte ich an seiner Sprache zu knabbern. Täusch ich mich, oder ist er sehr bemüht in seiner Künstlichkeit? Die ersten 1 ½ Seiten sind wahnsinnig dynamisch. Kurze Sätze, Staccato. Da wird schnell was skizziert und entwickelt und der Boden für die Erzählung ist gelegt. Und dann fangen sie an, seine verschwurbelten Sätzen. Nun, kein ungetrübter Genuss.
John Williams: Stoner
Jahrzehntelang verstaubte der Text in Verlagsregalen, bis er nun wiederentdeckt und zum internationalen Erfolg wurde. Und darum geht’s: Ein Bauernsohn wird zum Akademiker aus Überzeugung. Während die USA ihre Jugend in zwei Weltkriege, nach Korea und Vietnam schickt, beackert Stoner das Feld der Wissenschaft in einer Provinzuni. Seine Eltern reiben sich im Kampf um die Ernte auf. Er reibt sich im Kampf gegen Kollegen auf, die eine weit weniger integre Vorstellung von Wissenschaft haben wir er. Während ihm gleichzeitig seine soziopathische Frau das Familienleben zur Hölle macht. All diesen Anfechtungen begegnet er mit aufrechtem Gang und der Leser verzweifelt schier über so viel Ungerechtigkeit. Wie im Kasperltheater möchte man schreien: „Achtung, pass auf. Lass dir das nicht gefallen. Hau doch mal zurück.“ Oder so. Tut Stoner aber nicht. Stattdessen stirbt er ähnlich armselig, wie seine eltern es taten. Ein integres Leben ist in jeder sozialen Schicht möglich, aber schwer. Eine einfache, aber schöne Moral, die vom Autor auf unprätenziöse Weise ganz einfach und gerade heraus erzählt wird. Vielleicht ein wenig lang geraten? Sei’s drum, ein gutes Buch, dessen Lektüre wahrhaftig nicht schadet.
Denis Johnson: Train Dreams
Gleich vorweg: eine absolute Leseempfehlung. Das schmale Bändchen erzählt auf kaum mehr als 100 Seiten so viel, dass manch anderer Autor daraus einen Mehrbänder gemacht hätte. Die Geschichte nennt sich Novelle und beginnt im Jahr 1917 und zwar gleich mit dem ungeheuerlichen Ereignis, das jede Novelle aufweisen muss. Hier also, kommt es gleich am Anfang in Form eines beinahe Lynchmordes, den eine Mob von Eisenbahnarbeitern an einem Chinesen verüben will. So dynamisch, wie er einsteigt, so schreibt er weiter. Alle zwei, drei Seiten startet eine neue kleine Erzählung, so dass sich das Leben des Protagonisten als eine erzählerische Perlenkette entpuppt. Er arbeitet hart als Eisenbahner und erschließt damit die wilden Weiten der USA für die Moderne. Er hat bescheidene Ziele: eine Hütte im Wald, eine kleine Familie. Und verliert alles durch einen Waldbrand. Trotzdem bleibt er aus gutem Grund dort, wo seine Hütte war und erlebt, wie die Indianer verschwinden, die Flugzeuge und Elvis Presley kommen. Wie Autos die Pferde verdrängen und die ungezähmte Natur gebändigt wird. Durchaus eine Art Heimatroman der USA, ein Western ohne Helden, ein Entstehungsmythos des modernen Amerika, der da erzählt wird. Deshalb nochmal zum Schluss: eine absolute Leseempfehlung.
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben
Tja, wer Johnson gelesen hat, sollte von Seethalers Büchlein die Finger lassen. Zu sehr ist man von der simplen Erzählung enttäuscht. Über weiter Strecken scheint Seethaler von Johnson abgekupfert zu haben. Der Text wirkt wie eine Adaption von Train Dreams in die österreichischen Alpen. Nur, dass die Adaption unsäglich schwach ist. Vielleicht neige ich ja zur Übertreibung. Hab die Bücher aber in der hier besprochenen Reihenfolge unmittelbar nacheinander gelesen … und das war ne üble Leseerfahrung. Okay, Seethaler hat auch seine starken Seiten – die Passagen zum Kaukasus beispielsweise. Dumm nur, dass er so was wie den Ötzi noch eingearbeitet hat und dann auch noch das Bergwerk von Falun. Bleibt außer von den vielen „Einflüssen/Ausleihen“ aus der guten Literatur noch was Seethaler-Eigenes? Ja, die dröge Art der Erzählung. Grr.