.. und die Erfindung von Kleidern.
„Immer online“ stand auf der Plakatwerbung eines Providers oder so … das Unternehmen hat mich nicht interessiert. Interessanter ist der Bezug, den es zwischen diesem Motto und der Erfindung von Kleidern gibt.
Als der erste Höhlenmensch ein Stück Fell oder einen Grasumhang umlegte, hat er sich verändert. Er war nicht mehr eigentlich er selbst, sondern jemand anderes: Er sah anders aus, er ähnelte ein Stück weit einem Tier oder einer Pflanze. Ich sage: Es war primär diese Änderung seiner Erscheinung, die das Neue in der Menschheitsgeschichte war, dass der Mensch seine Identität aufgab und eine neue Identität annahm: die einer Pflanze oder eines Tieres.
Vielleicht spielt die Bibel in ihrer verklausulierten Art mit der Vertreibung aus dem Paradies genau auf diesen Identitätswechsel an: Adam und Eva ändern sich selbst und ihr Dasein als göttliches Abbild, indem sie ihre Nacktheit beenden und sich bekleiden.
Der Identitätswechsel wurde zwar durch das geänderte Aussehen eingeleitet, die Eigenschaften der Kleidung haben das aber sekundär noch unterstützt und verstärkt: der bekleidete Mensch war nun weniger verletztlich, er war gegen Kälte geschützt, er war getarnt. Diese neuen Fähigkeiten verstärkten den Eindruck, dass er durch das Kleidungsstück seine Person geändert hat. Er war ein neuer Mensch, dem alten, unbekleideten Menschen überlegen. Wohlgemerkt: primär ist die Änderung der Person, sekundär die sonst in den Vordergrund gerückten Eigenschaften von Kleidung wie Schutz und Wärme oder die ganzen sozialen Funktionen, die Kleidung hat.
Schamanismus und die erste Kleidung dürften in ihrem Ursprung zusammenfallen.
Legt man Kleidung wie eine zweite Haut an? Nein, eben nicht. Kleidung ist ja nicht nur eine weitere Schicht auf einer ansonsten identischen Schicht, Kleidung ist eben keine von mehreren Zwiebelhäuten. Sie ändert ihren Träger in seinem Wesenskern. Kleider machen Leute ist zum geflügelten Wort avanciert. Sie machen die Leute vor allem anders, statten sie mit neuen Fähigkeiten und Möglichkeiten aus und ändern Sie damit. Dabei ist Kleidung ein derart übliches Phänomen, dass man diesen Zusammenhang fast nicht mehr wahr nimmt. Dazu ein Gedankenexperiment: trägt heute jemand keine Kleidung, dann ist das, nun ja, ziemlich auffällig. Dabei tritt er nur als er selbst auf. Dies gilt aber als so befremdlich, dass es soziale Tabus bricht und in vielen Zeiten und Ländern juristisch verfolgt wird.
Nun zum „Immer-online-sein“ in dem Sinn, dass jemand sich nicht nur online Informationen zieht, sondern selbst dort ist, in dieser Onlinewelt, sich in den sozialen Medien darstellt, in der Cloud ist. Dann legt sich die Cloud auch nicht nur einfach als neue Zwiebelhaut um ihn. Vielmehr ändert sich der Cloudbewohner, unterscheidet sich vom Nichtcloudbewohner signifikant. Er hat Möglichkeiten der sozialen Interaktion etc., die an die Cloud gebunden sind. Beschränkungen von Raum und Zeit, die außerhalb der Cloud, im „richtigen Leben“ gelten, gelten für ihn nicht. Wie ein Kleidungsstück legt er die Cloud um sich und ändert sich dadurch. Noch wirkt das abstrus: schau mal, der ist schon wieder online, der lebt ja regelrecht in der Cloud, tss, tss, tss. Ähnlich dürfte der Steinzeitmensch den Kleiderträger missbilligend betrachtet haben.
Im Umkehrschluss: Wird es noch lange dauern, bis derjenige, der sich der Cloud verweigert eine soziale Ächtung erfährt, wie der Nackte? Vielleicht sogar verfolgt wird?
Düstere Aussichten. Interessant ist aber vor allem der Aspekt, dass materielle Dinge einen Identitätswechsel auslöseen können. Wobei ich jetzt auch mal die Cloud, trotz ihrer namentlich anmutenden Luftigkeit, als ein Stück Materie bezeichnen würde.
Daraufhin stellt sich die Frage, welche Dinge zwischen Kleidung und Cloud außerdem die Identität des Menschen prägten? – Feuer, Zäune, Waffen, Fahrzeuge, Radio … Kann das mal jemand katalogisieren?