Der unvollendete Roman, den Herrndorf unmittelbar vor seinem Freitot zur Publikation freigab.
Isa, die wir schon aus „Tschick“ kennen, flieht aus einem Heim (der Jugendpsychiatrie?) und macht sich auf einen langen Marsch durch eine unbestimmte, aber deutsche Landschaft. Ein road movie, Isa auf Wanderschaft mit blutenden Füßen. Unterwegs stößt sie auf merkwürdige Menschen, auch auf die beiden Jungs aus „Tschick“ – diese Begegnung wird nur kurz, auf wenigen Seiten abgehandelt. Sie trifft einen taubstummen Jungen und erzählt ihm etwas, sie trifft einen melancholischen Bauarbeiter und der erzählt ihr etwas.
Sie trifft einen Buben mit einem Wassereimer voller Frösche, abgedeckte mit Plastikfolie, befreit die Frösche und traumatisiert den Buben mit der bedrohlichen Weltvorstellung, dass der Eimer die Welt wäre, darin schwömme der Junge und die Plastikfolie sei der Himmel. Für Isa ist dies nicht nur eine Denkmöglichkeit. Sie liest die Sternbilder, fühlt nächtens den Himmel und das All um sich herum. Stellt sich vor, jemand würde sie von da oben sehen, weiß aber, dass niemand sie sieht. Sie erzählt, ihr Vater wäre von einem Meteor erschlagen wurde, an anderer Stelle macht er sich Sorgen um seine streunende Tochter. Mag sein, dass Herrndorf den einen oder andern Widerspruch beseitigt hätte, hätte er seinen Text überarbeiten können. Mag aber auch sein, dass er genau diese Widersprüche drin gelassen hätte. Denn ob Isa all das wirklich erlebt oder ob es ihrer Phantasie entspringt oder es der fehlenden Überarbeitung geschuldet ist: das mag der Leser ganz nach seinem eigenen Realitätsbedürfnis entscheiden.
Wir lernen Isa als sehr komplexes Wesen kennen. Suchend, stark, verletzlich, klug, lebenserfahren, ausgebufft, witzig, mitfühlend und vieles mehr ist sie. Vor allem auch: liebenswert. Würde sie einem begegnen, würde man ihr helfen wolle, wäre aber misstrauisch, ob sie nicht die Krätze hat oder einen beklaut, drum wäre man froh, wenn sie kurze Zeit später wieder verschwände und würde ihr trotzdem sehnsüchtig nachschauen. Eine Person, die nicht in der bürgerlichen Normalität angekommen ist und dort wohl auch nie ankommen wird.
Immer wieder reflektiert Isa über das Leben, die Verrücktheit, hält ihre Gedanken in ihrem Tagebuch fest. Sieht der Weberknecht, der auf ihrer Schulter sitzt, die Welt wie sie? Weiß er, dass er auf einem Lebewesen sitzt? Dass sein Leben von dessen Willkür abhängt? Was ist verrückt sein? Was sind die glücklichen Momente im Leben? Und: töte keine Tiere!
Seine Sprache ist präzise wie gewohnt und immer wieder mit schönen Bilder geschmückt. Zum Beispiel der Moment nach einem sommerlichen Hitzegewitter: „Die Wolkendecke reißt auf, und am Fächer der Sonnenstrahlen sackt die Hitze wieder zurück auf die Erde.“
Herrndorfs Sprache und Figurenzeichnung und das, was er zu erzählen hat ist „Tschick-ig“, zielt aber auf ein anderes Ende. Stand dort Versöhung mit dem Erwachsenwerden am Ende, so endet dieser Text mit einer der schönsten Sterbeszenen der Literatur. Isa, die am liebsten fallend sterben will, von einer Klippe oder einem Hochhaus herab, liegt auf dem Boden und schießt senkrecht über sich in die Luft, beobachtet die steigende Kugel, deren Flug sich unweigerlich umkehrt. Ob Isa nun genau in dieser Szene stirbt oder nicht: sie ist ihre eigene Kugel, sie fällt auf sich selbt zurück und mit ihrem Fallen tötet sie sich selbst. Zerschmettert sich, ihren Kopf. So wie der Hirntumor den Kopf des Autor von innen heraus zerfras, er sich selbst erschoß.
Ein ganz starker Nachlass. Traurig, aber auch sehr schön und ja, lustig. Man bleibt nachdenklich zurück.