Norfolk ist bekannt für historische Romane – schließlich ist er auch studierter Historiker. An „realistischen“ Erzählungen ist er weniger interessiert. Dafür sind zu viele antike Götter in seinen Texten zu gange, dafür werden zu viele generationenlange Verschwörungen aktiv, dafür werden zu viele wunderbare Ideen in die Werke eingebaut, denen Realismus schnurz ist, denen es mehr um die Lust an der Phantasie geht.
„In Gestalt eines Ebers“ beginnt mühsam. Erzählt wird in der schwergängigen Sprache der Sagenerzähler davon, dass die 60 größten Helden der Griechen aus allen Ecken der Welt anreisen, um eine Stadt, eine ganze Region von den Angriffen eines wütenden Keilers zu befreien, den die zürnende Diana als Heimsuchung geschickt hat. Der Erzähler sichert seinen Text durch eine Vielzahl von Fußnoten mit Quellenangaben ab. In den Fußnoten tobt ein regelrechter Kampf um die Korrektheit der Darstellung, widersprechen sich die antiken Quellen dorch in allem: in den Namen der Helden, ihrem Herkunftsort, ihrer Reiseroute etc. So wird schnell klar, der Text einfach nur eine weitere Variante der vielen antiken Erzählungen ist, die Norfolk-Variante. Eine naheliegende und auch nicht ganz falsche Vermutung – auch wenn sie im Fortgang nochmal in einem erzählerischen Salto gebrochen und mit einer neuen Schicht überzogen wird.
So lesen wir also, wie die Helden auf der Eberjagd dezimiert werden und letztlich nur noch drei übrig sind: ein junger Held, ein älterer Held und die Jägerin, auf die die beiden scharf sind und hinter der sie mindestens so sehr her sind, wie hinter dem eigentlichen Jadgziel, dem Eber. Die Fußnoten schleichen sich im Mittelteil dieses Buchteils aus, man treibt wunderschön durch die altertümlich anmutende Sprache und fühlt sich an Schwabs Sagen des klassischen Altertums erinnert, in denen man als Knabe von Heldentaten träumte. Gegen Ende der Jagd tauchen sie wieder auf die Fußnoten, kommen wir doch zu einer sehr heiklen Passage: wie endet die Jagd? Sterben die Jäger oder der Keiler? Auch hier Widersprüche in den antiken Quellen. Und Norfolk? Er lässt den Leser im Unklaren. Und beginnt stattdessen den zweiten Teil des Buches.
Zeitsprung in die Neuzeit, ins zwanzigste Jahrhundert. Die nun einsetzende Erzählung pendelt zwischen verschiedenen Orten und Zeiten. Chronologisch beginnt die Erzählung in Rumänien, wo wir auf zwei junge Männer und die von beiden angehimmelte Ruth treffen. Alle drei Juden. Die Besatzung Rumäniens durch die deutsche Wehrmacht steht davor. Die drei werden getrennt. Einer der beiden Männer, Jakob, wird – so muss man vermuten – von den Nazis ermordet. Ruth versucht sich durchzuchlagen, indem sie sich Naziführern an den Hals wird. Dem zweiten jungen Mann, Sol Memel, gelingt die Flucht bis Griechenland, wo er von Partisanen aufgegriffen wird, sich in eine Partisanin verliebt, dann in deutsche Gefangenschaft gerät und von einem Major Eberhard verhört wird. Gegen Kriegsende überfallen Partisanen das Gefangenenlager und unser rumänische Jude Sol Memel jagt mit ihnen hinter Eberhard her. Dieser stirbt … vermutlich. Die Umstände, das genau Geschehen sind weitgehend unklar, die englischen Befreier bekommen nicht heraus, wer was in diesen wirren Tagen gemacht hat. Sol Memel jedenfalls schreibt nun eine Geschichte über die antike Eberjagd, die als Allegorische der Nazi-Besetzung Griechenlands gelesen werden will. Der Text wird fantastisch erfolgreich, zur Pflichtlektüre in französischen Schulen und in Dutzende Sprachen übersetzt. Jahrzehnte später soll er verfilmt werden. Und zwar unter der Regie von Rutgh, just der Jugendliebe des Autors, die er nun im hohen Alter wieder sieht.
Und da taucht sie nun wieder auf, die Frage nach der Wahrheit und der Fiktion. Wo wird gelogen, wo wird beschönigt, wo die eigene Schwäche in Heldentum umgedichtet? In einer wunderbaren Volte bekommen wir die Erklärung für die vielen Fußnoten im Teil 1: auch Jakob, der Konkurrent um die Jugendliebe Ruth hat die Nazis überlebt und die zu Weltruhm gelangte allegorische Geschichte Solomons in einem wissenschaftlichen Werk kommentiert und aus einander genommen, Textdekonstruktion bis ins Detail. Wir lasen im ersten Teil also nicht Norfolks Variante der antiken Sage, sondern die allegorische und zu Weltruhm gelangte Erzählung von Sol Memel, die von Jakob dekonstruiert wurde.
Wow. Mir hats ganz wunderbar gefallen. Der Autor lässt ein paar Dinge offen. Schließlich soll der Leser auch noch was zu tun haben. Die Verbindungen, die im Laufe des Textes geknüpft werden und erst recht die, die wieder gelöst werden, machen den Reiz aus, genauso, die präzise Sprache des Autors, der es verscheht sowohl in moderne, als auch antikisierter Sprache zu überzeugen.
Keine einfache Lektüre, aber ein intellektueller Spaß für Leute mit Neigung zu althumanistischer Bildung.