November-Auslese

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend

Die Textkonstruktion erinnert an eine Aufgabenstellung in einer Schreibwerkstatt, aber die Ausführung ist höchst gelungen! Stell dir vor ein Mensch stirbt als Kleinkind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als alter Mensch … wie wäre sein Leben? Erpenbeck verquickt diese Konstruktion mit einem Durchlauf durch die zentraleuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die österreichisch geprägte Perspektive empfand ich als wohltuend anders, als die gewohnt bundesdeutsche.

Der erste Tod ereilt ein achtmonatiges Kleinkind in Galizien, er kommt grundlos und plötzlich und unaufhaltsam. Er schlägt zu einer Zeit zu, in der die K.u.K.-Monarchie sicher im Sattel sitzt, während die Untertanen Pogrome, erstarrte Beamtenlaufbahnen und Fluchten nach Amerika durchleben. Bis auf die Pogrome natürlich, die nicht alle überleben. Der letzte Tod ereilt die zur altersschwachen Seniorin gealterte Protagonistin im bundesdeutschen Altesheim ein knappes Jahrhundert später. Dazwischen gehen Kaiserreiche unter, bekriegen sich die Welten, verreckt die Intelligenzia im Gulag, wird der Sozialismus auf deutschem Boden aufgebaut und vom Westen verschluckt.

Wunderbar beschreibt Erpenbeck die Zeitläufte und wie der Einzelne ein Spielball der Geschichte ist, selten nur macht er sie aktiv. Wunderbar fühlt sie in ihre Figuren und wie diese mit dem Tod umgehen hinein.

Ein paar Konstanten begegnen einem unabhängig von Zeit und Politik immer wieder. Ulkigerweise – oder bezeichnenderweise? – zum Beispiel eine Standuhr. Erpenbecks Sprache ist hinreisend klar und klarsichtig. Das Buch so gut, dass es auf jeden Fall ins Regal kommt, zu den Büchern, die ich nochmal lesen werde, weil sie es wert sind.

Die Leben, die die Protagonistin schließlich alle geführt hat, sie enden alle gleich, aller Tage Abend ist der Tod.

Christoph Poschenrieder: Das Sandkorn

Das Diogenes-Bändchen war für den Deutschen Buchpreis 2014 nominiert und ist, ich geb es zu, meine erster „Schwulenroman“. War aber eine gute Leseerfahrung. Die Handlung spielt 1914 und 15, in Rom und Berlin, vor allem aber in Süditalien, Apulien. Auch wer sonst nix von Apulien weiß, der weiß vielleicht, dass dort das Castel del Monte steht. Jener achteckige Klotz, den Friedrich II., ein Stauferkönig also, dort bauen ließ.

Das Büchlein schildert die Forschungsreisen eines preusischen Kunsthistorikers, der für Wilhelm II. das Staufische, also das Deutsche in Süditalien dokumentieren soll und der sich dort in seinen Assistenten den Schweizer Beat verliebt. Der Ausbruch des Weltkrieges gefährdet die Forschungsreise und die – unerklärte – Liebe der Beiden.

Sand spielt im Text immer wieder eine Rolle, eine tragische letztlich.

Absolut empfehlenswert ist das Buch, wenn man selbst in Apulien einen Urlaub verbringt und sich dann auf den Spuren der Protagonisten bewegen kann (großer Leserkreis) oder sich für die schillernde Figur Friedrichs der Zweiten interessiert (ich zum Beispiel). Sicher auch empfehlenswert für Homosexuelle, die eine romantische und dramatische Liebesgeschichte lesen wollen (wahrscheinlich sehr großer Leserkreis) sowie für alle, die etwas über die Verfolgung der Schwulen im Kaiserreich erfahren wollen (eher wenige). Nicht zu vergessen diejenige, die wegen 100 Jahre erster Weltkrieg einfach alles zu dem Thema lesen. Marketingtechnisch also durchaus ein Coup!

Ich will aber nicht zu sehr ätzen, denn das Büchlein ist angenehm zu lesen, spannend und kurzweilig, teils witzig, hat eine filigrane Personenzeichnung, stimmige Charaktere … Leseempfehlung? Ja, warum nicht, wenn man zu den Zielgruppen da oben gehört?

Julian Barnes: Unbefugtes Betreten

Ein Erzählband, so was les ich ja selten. Aber in dem Fall hat es sich so was von gelohnt (eigentich lohnt es sich immer). Barnes erzählt aus dem Innenleben menschlicher Beziehungen. Ein ganz wunderbarer Beobachter menschlicher Verhaltensweisen.

Der absolute Brüller sind die Szenen bei „Phil und Joanna“. Da befindet man sich in einer Runde von Freunden, die nach einem umfangreichen Abendessen und dem zugehörigen Alkohol durch ein mäandrierendes Gespräch gleiten. Wir bekommen nur und ausschließlich die Redebeiträge serviert. Keinerlei Beschreibungen drum rum, nicht einmal einen Hinweis darauf, wer gerade spricht. Wüsste nicht, dass ich schon mal so witzige und geniale „Gesprächsprotokolle“ gelesen habe.

Ein wenig fallen die Erzählungen im zweiten Teil ab. Wirkt ein wenig wie ein konstruiertes Gedankenexperiment. Barnes dekliniert die fünf Sinne durch, genauer gesagt, was passiert, wenn einem einer der Sinne verloren geht. Da hat der Verlag zusammengepackt, was nicht gut zusammen passt. Aber vielleicht wäre der Band sonst zu dünn gewesen oder welche Marketingüberlegungen auch immer dahinter standen.

Empfehlenswert? Nun, es ist keine leichte Lektüre. Wer aber akzeptiert, dass man beim Lesen mitdenken muss, dem seien die Erzählungen empfohlen.