… warum so viele Menschen reflexhaft nach einem starken Staat rufen.
In den letzten Tagen, eigentlich schon seit ein paar Wochen, tobt ein Ruf durch die Online-Foren: „Macht die Grenzen dicht!“. Seit ein paar Tagen tritt er in der verschärften Form auf: „Ausgangssperre sofort!“
Stand heute, 21. März 2020, kenne ich in meinem Umfeld niemanden, der am Coronavirus erkrankt ist. Fies: Vielleicht weiß ich es einfach nicht, vielleicht bin ich ja selbst krank. Diese Unfähigkeit, die Lage einzuschätzen, ist es wohl, die dazu führt, dass immer mehr Bürger sich einen starken Staat als Schutzmacht wünschen. Angestachelt wird die Angst durch den „body count“. Auch ich schau mehrfach am Tag auf den offiziellen Infektionsstand und wie er ungebremst durch die Decke geht.
Schon früh gab es die Forderung, „die Grenzen zu schließen“. Das wurde oftmals sehr pauschal und undifferenziert gefordert. Wäre man den Kassandra-Rufern gefolgt, dann wären Häfen und Flughäfen komplett dicht gemacht worden. Dann wären die Landesgrenzen hoch gezogen worden. Die Folgen wären ganz einfach gewesen: ein Komplettzusammenbruch des Wirtschaftssystems und der Gesellschaft binnen Stunden, jedenfalls weniger Tage. Versorgungsschwierigkeiten bei Gütern des alltäglichen Bedarfs, die binnen ein, zwei Tage aufgetreten und unlösbar gewesen wären. Hamsterkäufe, Plünderungen, Mord und Totschlag. Versorgungsengpässe bei medizinisch notwendigen Produkten, auch die wären eher innerhalb von Tagen, auf jedenfall innerhalb weniger Wochen aus gewesen. Die Gesellschaft wäre kollabiert.
Deshalb bin ich „dem Staat“ für sein besonnenes Handeln dankbar. Es gab punktuelle Maßnahmen – Unterbrechung von Flugverbindungen bzw. verschärfte Kontrollen von Flugreisenden aus Gefahrengebieten. Deklaration von Risikogebieten (Heinsberg, Norditalien etc.). Schließlich Schul- und Kitaschließungen. Schritt für Schritt wurden die Maßnahmen verschärft, inzwischen sind wir tatsächlich bei Ausgangssperren angekommen – wenn auch (noch?) nicht so rigoros, wie in z.B. Italien
Im Nachhinein waren diese Maßnahmen vielleicht zu zaghaft und zu spät verordnet, mag sein. Vom Prinzip her ist es aber richtig, nicht gleich die Maximalmaßnahme zu ergreifen, sondern sukzessive vorzugehen. Warum? Weil die Gesellschaft dann Zeit zur Anpassung hat. Damit meine ich: Unternehmen können versuchen, Lieferwege zu stabilisieren, die eigene Produktion und Belegschaft zu sichern. Veranstalter können ihr Programm ausdünnen oder komplett absagen. Restaurants können sich neue Sitzordnungen überlegen. Vereine können die Trainingspläne überarbeiten oder aufheben. Einzelpersonenn können private Kontakte ausdünnen … und ganz wichtig: Klopapier kaufen (facepalm!)
Die Zumutbarkeit von Maßnahmen ist höher, wenn schrittweise eskaliert wird. Oder: die Anpassungsmöglichkeiten der Gesellschaft und der Einzelnen sind höher.
In meinem Fall heißt das: Seit zwei Wochen treffe ich keine Freunde und Bekannte mehr. Eine Ausnahme, die ich mir aber ab jetzt auch nicht mehr gönnen darf: der wöchentliche Unterricht bei meiner Musiklehrerin. Ganz viele Maßnahmen wurden von meinem Unternehmen ergriffen – schon vor über zwei Wochen und auch hier sukzessive verschärft. Bis hin zur Aufforderung ins home office zu gehen. Da bin ich jetzt seit 5 Tagen, also schon deutlich vor der „Ausgangssperre“ in BaWü, die seit heute gilt. Ich fahre seit über einer Woche keine Öffentlichen, sondern Rad. Anders gesat: ich habe meinen Bewegungsradius extrem reduziert – auf einen täglichen Spaziergang und den Gang zum Einkauf. So halten es viele. Und das ist gut so.
Das Leben in der Corona-Klause ist … blöd, aber lebbar. Vielleicht am meisten Kraft kostet es, dass man nicht weiß, wann die Sache endet, die Beschränkungen wieder aufgehoben werden.
So, was ich also erlebt habe, ist ein social distancing ganz ohne dass der Staat dafür notwendig gewesen wäre. So wie mir ging es sehr vielen: sie sind voraus geeilt und haben sich freiwillig selbst beschränkt … die staatliche Maßnahme folgte nach.
Wäre es gelungen, dies zu einem flächendeckenden Phänomen zu machen, dann wäre die staatliche Repression unnötig gewesen, dann hätten die Gesellschaft und viele Einzelpersonen die Verantwortung übernommen und das Heft des Handelns in der Hand behalten.
Demgegüber stehen diejenigen, die mehr Staat haben wollen. Mit der fadenscheinigen Begründung, dass es ja so viele Uneinsichtige gäbe, die man zum eigenen Schutz und dem der Gesellschaft, zwingen, ja, bezwingen müsse. Oh, wie einfach ist das doch: fordern, dass der Staat handelt. Im Zweifelsfall ist es dann auch der Stat, der versagt hat. Dahinter steht sicher der Wunsch nach Schutz, die Hoffung auf einen großen Bruder, der einen beschützen möge. Was es aber auch ist: es ist ein fieser Versuch, sich selbst zu exculpieren. Aus Sicht der Autoritätsgläubigen tragen diejenigen eine Schuld, die sich trotz Pandemie in Gruppen treffen. Die sollen als „Feindbild“ herhalten, sie seien hedonistisch, jung, dumm, naiv oder sogar bösartig. Ihr Verhalten würde die Gesellschaft durch den Virus gefährden.
Die Autoritätsgläubigen ignorieren dabei, dass sie selbst die Gesellschaft ebenfalls schlimm und nachhaltig schädigen. Wer jetzt nach dem Staat ruft, schiebt die Verantwortung von sich. Würden diese Leute in ihrem Wirkungskreis nicht einfach nur laut nach Repression rufen, sondern ihr Mögliches tun, damit sich ihr Umfeld verantwortungsbewusst verhält, dann hätten wir eine Gesellschaft in der es sich gesund und gut leben lässt.
Während ich an diesem Text feile, erreichen mich zwei Webtipps, die gut zum Thema passen: a) ein Interview mit dem Soziologen Bude auf Zeit Online: „Als hätten viele noch nicht kapiert, worum es geht“ (https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2020-03/corona-krise-folgen-neoliberalismus-gerechtigkeit-solidaritaet-heinz-bude ) und b) ein positives Szenario für die Zeit nach Corona https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/im-rausch-des-positiven-die-welt-nach-corona/
Bleibt positiv – gestimmt und nicht getestet!