Schreibübung

[Text über die Stichworte „Troll, Rusalka, blind“ – der Anfang kommt von Arthur Schnitzler: „Der blinde Geronimo und sein Bruder“]

Der Blinde stand von der Bank auf und nahm die Gitarre zur Hand, die auf dem Tisch neben dem Weinglase bereit gelegen war. Nun tastete er sich den wohlbekannten Weg bis zur offenen Türe hin, und dann ging er die schmalen Holzstufen hinab, dem fernen Rollen der Wellen entgegen.

Das Wetter wurde immer schlechter, ein kalter Regen klatschte herab. Nach einer Reihe schöner Tage schien der Herbst plötzlich und allzu früh hereinzubrechen.

Der Blinde sang und begleitete sich dazu auf der Gitarre; er sang mit einer ungleichmäßigen, manchmal plötzlich aufkreischenden Stimme, wie immer, wenn er getrunken hatte. Zuweilen wandte er den Kopf wie mit einem Ausdruck vergeblichen Flehens nach oben.

Nach den uralten, fast vergessenen Legenden gab es eine Vielzahl verschiedener Trolle. Einige von ihnen waren Riesen, andere wiederum von kleinem, zwergenhaftem Wuchs. Der hier war ein singender Blind-Troll oder auch ein blinder Sing-Troll, beides ist eher beschönigend.

Jede Nacht ging er – trunken vom Wein – an den Strand und sang seine Lieder. Im weiten Umkreis warnten Eltern deshalb ihre Kinder nachts das Haus zu verlassen, denn wer dem singenden Blind-Troll zuhört, kann vor lauter Grausen plötzlich alle Haare verlieren und sieht dann aus wie der alte Jewgeni und so will ja nun niemand aussehen.

Heute Nacht bestand aber keine Gefahr für die Kinder und schon gar nicht in der Nähe des Wassers, denn heute war eine Nacht der Rusalkawoche. Und keine Kind, nicht einmal das dööfste, ja nicht einmal der kleine Oleg mit der krummen Brille, würde in einer Nacht der Rusalkawoche das Haus verlassen und sich dem Wasser auch nur nähern. Lieber schmutzig bleiben, als von einer Rusalka auf den Grund des Meeres gezogen werden. Das dachte sich eigentlich auch der blinde Sing-Troll. Aber im Suff hatte er auf seinem Braille-Kalender das Datum falsch ertastet und stand nun nichts ahnend an der Steilklippe hoch über dem Meer.

Und da passierte, was ihm noch nie passiert ist: nach seinem Lied erklang Applaus. Er war sich erst nicht sicher, weil er noch nie Applaus gehört hat. Aber, das musste es sein, dieses klopfende Geräusch. Ein wenig klang es, wie wenn jemand einen übergroßen Fischschwanz auf einen Felsen schlägt. Und nun sprach ihn tatsächlich auch noch jemand an. Der Leser stelle sich nun die Beschreibung einer unglaublich schönen Frauenstimme vor, schwankend zwischen Unschuld und Erotik. Ach so, der Inhalt des Gesagten ist natürlich auch noch wichtig. Die zarte etc. Stimme gurrte also: „Hallo du knuffiger Sing-Troll, hast du nicht Lust auf Stage-Diving?“ Der genaue Wortlaut ist nicht sicher überliefert, schließlich waren ja keine Zeugen dabei. Ober so etwa muss es gewesen sein. „Stage-Diving? Wassn das?“ „Du singst ein Lied und wirfst dich in die begeisterten Arme der Zuhörer, die dich auf Hände tragen. In deinem Fall musst du aber das Lied nicht mal fertig singen, ja, du musst nicht mal anfangen damit, du kannst einfach gleich springen.“ Vom Liebreiz der Stimme betört und weil Trolle noch dööfer sind als Oleg mit der krummen Brille, willigte der blinde Sing-Troll begeistert ein. „Yeah, stage-diving, super Idee“ und sprang von der Klippe. Unter ihm öffnete die Rusalka – die Leser wissen längst, dass es sich um sie handelt, die den armen Troll ins Verderben locken will – ihre Arme weit, um ihn zu umfangen und mit sich in die Tiefen des Meeres zu ziehen. Und der Sing-Troll trudelt durch die Luft, in seiner Begeisterung stimmt er doch noch ein Lied an und klampft auf seiner Gitarre den einzigen Akkord, den er kann. So segelt er also nun nach unten, segeln ist dabei vielleicht nicht der richtige Ausdruck, sein klosförmiger Körper erlaubt eigentlich nur ein sackartiges Fallen. Und wie die Rusalka das so sieht merkt sie, dass es vielleicht ein Fehler war, diesen Troll zu locken, von Sekunde zu Sekunde wird er größer und größer und es wird ihr klar, dass dieses Märchen kein gutes Ende nehmen wird. Mit einem lauten Grunzen plotzt der Troll genau auf den Fels, auf dem die Rusalka sitzt. Die Gitarre hält er hoch über sich, damit der nur nichts passiert. Die Gitarre ist dementsprechend heil geblieben und hat seine Gesänge noch in vielen Nächten begleitet. Von einer Rusalka hat man aber seither nichts mehr gehört. Die Alten sagen, dass hätte mit dem Aufkommen der Schifffahrt zu tun und dass die Zeit für Rusalki vorbei wäre. Aber Jewgeni, der es als einziger wagt, dem Gesang des Sing-Troll zuzuhören, der weiß es besser.

[Der Anfang kommt von Arthur Schnitzler: „Der blinde Geronimo und sein Bruder“]

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