Die Geschichte begann harmlos und nicht weiter ungewöhnlich: am Morgen des 3. Oktober verließen Sergente Stefano Mascarpono und Sergente Mario Mento die Zentrale er Policia Municipale zu ihrem üblichen Kontrollgang durch die Bars und Cafes der Stadt. Sergente Stefano Mascarpono, damals 25 Jahre alt und bis heute ledig und gut trainiert macht stets eine bella figura. Er ist zu jeder Tages- und Nachtzeit mobil unter 39485577 erreichbar. Sein Partner Sergente Mario Mento, damals 35 Jahre alt, ist bis heute unglücklich verheiratet, inzwischen aber mit einer anderen Frau, hat aus der damaligen ersten Ehe drei Kinder zum Zeitpunkt der Ereignisse im Alter von einem, drei bzw. fünf Jahren. Finanziell hatte er sich mit seinem Hausbau übernommen und muss – so heißt es – schon alleine deshalb die Barbesitzer jeden Morgen in Gespräche über ihre Sicherheit verwickeln. Durch die zwischenzeitliche Scheidung hat sich seine finanzielle Situation dramatisch zugespitzt. Bei seinem jungen Kollegen scheinen die hohen Ausgaben für Haargel, Telefonino und Anabolika der Grund für die morgendliche „Sicherheitsberatung“ zu sein. An der Piazza Duomo stießen die beiden auf einen offensichtlich verwirrten Touristen. Augenzeugen berichten, dass die beiden zunächst versucht hätten den Mann zu ignorieren. Es ist bekannt, dass die beiden keinerlei Ausländisch sprechen und da sie beide aus dem benachbarten Massa stammen, beherrschen sie nur den dortigen nahezu unverständlichen Dialekt, was den Kontakt zu Touristen sehr erschwert. Das Verhalten des Mannes war aber auf Dauer nicht zu ignorieren, so dass die Beamten schließlich einschreiten mussten.
Was sich dann zutrug beschreibt ein Augenzeuge so: „Ich stand wie immer auf der Piazza Duomo mit meinem Kastanienofen.“ So war der Satz in keiner Weise verwertbar, deshalb unterbrach ich den Zeugen und fragte nach: „Nein, nein, Sie meinen die Piazza Statuto, wir hier sagen nur die ‚Piazza mit dem Kerl mit dem kleinen Pimmel‘ dazu. Ist zwar länger, aber lustiger.“ Damit wäre das Wichtigste geklärt.
Wie im Fortgang der Geschichte verständlich wird, möchte der Augenzeuge hier nicht namentlich genannt werden. Es sei nur so viel verraten, dass er jeden Nachmittag und Abend köstliche Kastanien aus den hiesigen Wäldern in einem skurrilen Ofen auf einer Piazza der Stadt röstet und damit der einzige ist, der diesem alten Gewerbe noch nachgeht. Sein absolut glaubwürdiger Bericht fährt fort:
„Nein, die Sache spielte sich auf der Piazza Duomo ab. Und zwar an der Statue des Leopoldo II. Der Kerl [damit meinte er den Touristen; der Verf.] hatte das Schutzzäunchen überstiegen. Das ist nichts besonderes, dass macht jeder von uns mal, wenn er sich erleichtern muss. Der Kerl wollte aber was anderes, der wollte auf die Figur hinaufsteigen. Schaffte es aber in seinem Zustand nicht mal auf den ersten Sockel. Dabei weiss doch jeder, dass die Statue nicht bestiegen werden kann, sie ist ja sagenhafte 1848 Meter hoch, derart hoch, dass sie auf kein Foto draufpast und ihr Kopf bis heute von keinem Menschen bestiegen werden konnte. Es noch dazu an der Nordwand zu versuchen, dass war der reine Wahnsinn, er kann von Glück reden, dass er das Abenteuer überhaupt lebend überstanden hat. Wie mir die Anwohner erzählt haben, wer er wohl seit Miternacht am Aufstieg und stieß dabei immer wieder einen lauten gellenden Ruf aus: ‚Altissimo‘. Man konnte deshalb wohl kaum schlafen. Was er damit gemeint hat, weiß aber keiner hier. Ist sicher etwas, was nur Touristen verstehen. Vielleicht der Name seiner seiner Reisegruppe?“
An dieser Stelle fällt zum ersten Mal das Wort, dass die ganzen Geschehnisse wie ein roter Faden durchzieht: ‚Altissimo‘. Man sollte sich dieses Wort merken, da es viel zum Verständnis der Vorgänge beizutragen scheint.
Die beiden Polizisten nahmen den Touristen in Gewahrsam, in ihren langen gemeinsamen Dienstzeit hatten eintrainiert. Während Mario Mento – wie es in Kreisen der Policia Municipale heißt – ‚die Verkehrstunte machte‘ und den Verkehr auf der Piazza Duomo mit einer ausgefeilten Choreografie unter Zuhilfenahme eines LED-beleuchteten Warntäfelchens in einem komplexen Stau verwandelte, ein meisterliches Kunststück, ist die Piazza Duomo doch Fußgängerzone, so dass es einiges an Zeit brauchte, um den Stau in alle Zugangsgassen auszudehnen, während also Sergente Mento derart die Aufmerksamkeit auf sich zog, hatte Sergente Stefano Mascarpone ausreichend Zeit, sich um den Touristen zu ‚kümmern‘. In Kollegenkreisen wird der Sergente wegen der Art, wie er sich um Delinquenten kümmert, nur mit seinen Initialen SM gerufen. Ein flinker Schlagstock, auch auf die empfindlichsten Stellen, egal ob bei Mann oder Frau, zeichnet seine Arbeit aus. Kein Wunder, war der Tourist bald gefügig und konnte auf eine Ape geworfen werden, welche die Beamten kurzerhand requiriert hatten, und in die Verliese der Policia Municipale verbracht werden. Über das, was dort geschah, gibt es weder offizielle Dokumente, noch Zeugenaussagen. In seinem eigenen Interesse geht der Verf. deshalb davon aus, dass dort nichts geschah. Es gelang mir in mühsamer Recherche eines dieser Fahrzeuge zu finden und zu verfolgen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es nicht genau das Fahrzeug, in dem der Tourist antransportiert wurde, aber der Leser kann sich nun vielleicht eine Vorstellung vom Gefangenentransport machen.
So weit also der Morgen des 3. Oktober. Ein eigentlich ganz normaler Tagesanfang in Pietrasanta.