- Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer
Ein recht dickes Buch (700 Seiten). Aber gut zu lesen. Es geht um die Geschichte eines etwa 1950 in Ungarn geborenen Menschen, der mehrfach im Leben seine Identität wechselt. Und dabei in verschiedene Länder und durch verschiedene soziale Schichten spaziert. Teilweise wird er dazu gezwungen – seine Eltern fliehen mit ihm vor dem ungarischen Geheimdienst nach Österreich, ein Geheimdienstler nutzt den Knaben als vermeintlichen Sohn, um so getarnt von Wien nach Oostende zu reisen etc. Teilweise wechselt er seine Identität, weil es mal wieder Zeit ist.
Er kommt in keinem Land „an“, vor allen Dingen aber auch in keiner eigenen Person. Wie ein Schwamm saugt er aus den Lebensgeschichten anderer das heraus, was er für sich brauchen kann und formt daraus ein neues vorübergehendes Ich. Nicht für sich selbst, sondern nur für seine Umwelt, die in ihm etwas sieht und sehen will. Er selbst ist und bleibt als Charakter bis zum Schluss weitgehend ungreifbar und unbegreifbar.
Der Protagonist geht dabei alles andere als skrupellos vor. Sein Spazieren durchs Leben ist mitunter recht brutal. Aber die „schlimmen Sachen“ werden ganz nonchalant nebenbei eingeschoben.
Die Abenteuer sind gelegentlich recht dick aufgetragen. Der Protagonist belügt sehr elegant seine Umwelt und wahrscheinlich auch den Leser. Doch Dichtung und Wahrheit sind einem vor lauter Leselust bald reichlich egal. Die verschiedenen Ichs und Zeiten wechseln einander ab, aber keine Sorge, man behält den Überblick.
Und wenn man am Ende eines derart langen Buches noch gern weiter gelesen hätte, dann ist das ja schon mal eine Auszeichnung für das Buch.
Um mal zwei Vergleiche anzustellen: „Der Hundertjährige der aus dem Fenster sprang und verschwand“ ist Kinderkacke dageben und auch Thomas Manns Hochstapler Felix Krull kann einpacken. So, damit sind Buch und Autor erstmal grob aber korrekt in den Literaturkanon einsortiert.