Für den Lesekreis, der heute bei mir war, hab ich ein wunderbares Buch gelesen:
David Foster Wallace: „Der bleiche König“
Für mich eines der besten Bücher ever – mit Platz in meinen persönlichen Top 50. Warum? Jede Seite (und es sind immerhin über 600) macht glücklich, quasi eine Art Superdroge. Aber, vor Drogenkonsum muss ernsthaft gewarnt werden. In diesem Fall fürchte ich, dass manch einem, wahrscheinlich sogar den meisten, die Lektüre nicht gut bekommt.
Ein paar Gedanken dazu:
Gleich im zweiten Kapitel begegnet der Leser Claude Sylvanshine und erlebt dessen inneren Monolog. Nun könnte man sagen, dass innere Monologe inzwischen ein alter Hut sind. So wie Wallace ihn schreibt, aber nicht. Sylvanshine springt assoziativ und öfter noch ziemlich zusammenhangslos von einem Gedanken zum anderen, flicht in seine Umwelteindrücke steuerrechtliche Überlegungen ein etc. Das ist der alltägliche Irrsinn im Kopf des postmodernen Menschen, eine Aufmerksamkeitsdauer die gegen Null geht, Gedanken wie Zappen durch Fernsehkanäle – wow!
Wallace zeigt, wie die amerikanische Steuerbehörde ihre Mitarbeiter knechtet und mit Langeweile fast umbringt. Wie der Apparat den Menschen entmenschlicht (da fällt mir doch gleich mein Verlag ein …), das tut der Autor aber mit drei wundervoll kombinierten Mitteln: Empathie für seine Figuren und seien sie noch so seltsamt (und höchst seltsam sind sie alle!), gepaart mit einem subtilen Humor und einer Sprachbeherrschung, die man ihm nur neiden kann.
Wegen der oben erwähnten „inneren Monologe“: Die erinnern an den Ulysses von Joyce und tatsächlich lohnt sich, glaube ich, ein Vergleich der beiden Werke auch unter anderen Aspekten. Joyce führt uns einen Tag lang durch Dublin – von der Anlage reisst einen das auch nicht mehr vom Hocker, als die Arbeitswelt der Steuerprüfer! In Dublin begegnen dem Leser wie in der Odyssee die seltsamsten Figuren. An denen mangelt es bei Wallace wahrhaftig auch nicht: Cusk, der in panischer Angst vor seinen Schweißausbrüchen lebt und trotdem wie ein Schwein trieft; Lane Dean, dem vor Langeweile bei der Arbeit über den Steuererklärungen Phantome erscheinen und das noch vor der Frühstückspause; Meredith Rand, bei der alle nur ihre Schönheit sehen, worunter sie so leidet, dass sie sich ritzt und ritzt und ritzt; Shane Drinion, der sich so konzentrieren kann, dass er anfängt zu levitieren, bis er, den Kopf noch immer direkt über seinen Unterlagen, in sitzender Stellung mit den Füßen zur Decke über seinem Arbeitsplatz schwebt, davon aber nichts merkt, weil er sich ja konzentriert; etc. pp.
Nach der Lektüre des Gesamtwerks fragt man sich schon, was der Autor einem da nun sagen wollte. Nun, das Werk blieb wegen Wallace‘ Selbstmord Fragment. Mag sein, dass sich die Frage deshalb nicht einfach beantworten lässt. Aber vielleicht wollte der Autor ja auch den Eindruck hinterlassen, den das Werk auf mich gemacht hat: es ist wie eine umfangreiche Steuererklärung, ein großes überquellendendes Konvolut an Fakten und seinen die Details noch so klein, Belege und Nachweise für alles, was man geltend machen möchte. So legt uns Wallace sein Buch vor und wir sind in der Position der Steuerprüfer, die das Werk prüfen. Prüfen auf Vollständigkeit und Korrektheit. Daraus lesen müssen, ob es, das Werk, plausibel ist oder nicht. In dem Sinn, in dem eine Steuererklärung eine komplette Dokumentation des Steuerzahlers ist, in dem Sinn ist Wallace Werk eine komplette Dokumentation der US-amerikanischen Gesellschaft der 1980er.
PS: Wieso heißt der Text eigentlich „Der bleiche König“? Bin mir nicht sicher. Aber in einem Kapitel stecken drei Männer im Aufzug fest, einer davon DeWitt Glendenning, der Verwaltungschef. Im Licht des Aufzugs wirkt er so bleich, dass man ihn für tot halten könnte. Naja, nur so ne Idee.