Eine Episode aus der Kindheit meiner Mutter:
Kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs starb ihr Vater in einem Gefecht – gar nicht weit weg von ihrem Wohnort Herrenberg entfernt, in Vaihingen an der Enz. Neben seiner Leiche fand man die Mütze mit dem eingenähten Namen.
Meiner Muter war damals dreizehn Jahre alt, ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, das seinen Vater sicher noch gebraucht hätte.
Das Kind überwindet den Tod des Vaters, richtet sich im vaterlosen Leben ein. Dann, Monate später, kehrt der Tote zurück. Einbeinig hinkt er kriegsversehrt an Krücken in seine Heimatstadt. Eine Verwechslung: ein anderer Toter liegt bei Vaihingen, ein Namenloser.
Diese Geschichte hat mich schon als Kind fasziniert: Ein Elternteil stirbt, das Kind kämpft mit dem Verlust … und dann kehrt die geliebte Person zurück.
Alles ist wieder gut.
Was für ein fürchterlicher Verlust, welch unermessliches Glück. Den Tod empfinden, aber seine Folgen nicht tragen müssen. Ein Tod zur Warnung. Ein Tod zum Üben, aus dem man hätte lernen können.
In meiner Familie hat man daraus nichts gelernt. Nicht gelernt über seine Ängste und Wünsche zu reden oder darüber, was der andere uns bedeutet.
Vielleicht übersteigt das die Lernfähigkeit des Menschen? Meine Lernfähigkeit und die meiner Familie hat es überstiegen. Wir sprachen stattdessen über den Alltag und seine Bewältigung, über dieses und jenes wichtig scheinende Problem – über Scheinprobleme.
Ameisenhaft geschäftig.
Vielleicht ist es nicht zu spät, etwas zu ändern, etwas zu lernen.
Aber: Meine Muter ist tot. Und das nicht auf Probe. Sie starb einen langen und schmerzvollen Tod. Schwer mitanzusehen. Schwer mitzuerleben.
Unerträglich – wären da nicht Menschen gewesen, die helfen: die Diakonieschwestern, Emilia, Dr. Pfeilsticker und mein Vater, der sein Versprechen, auch in schlechten Zeiten zu seiner Frau zu stehen, liebevoll eingelöst hat.
Und Frau Fischinger, die half, den Übergang zu einem Leben nach dem Tod von Ehefrau und Mutter zu erleichtern.
Bevor wir … bevor ich bald wieder auf meiner Ameisenstraße weiterwerkle, möchte ich diesen Menschen danken.
Menschen, die – wenigstens ein bisschen und wenigstens eine Zeit lang – über sich selbst hinaussehen und anderen den Tod erleichtern und den Mitmenschen damit das Weiterleben.