Winterlese (Janur 2023)

Irene Solà: Singe ich, tanzen die Berge

Das schmale Bändchen fand viel Anklang. Die Autorin flicht ein dichtes Gewebe in das die Menschen und Tiere, die Pflanzen und die Natur, die Lebenden und Toten eines Pyrenäendörfchens eingewoben sind. Alle dürfen sie selbst ihre Sicht der Dinge wiedergeben (es fiel das Stichwort „Demokratisierung der Perspektive“). Das Ergebnis ist keine Kakophonie, sondern eine vielstimmige Harmonie. Obwohl: so manche kritisierte, dass die Perspektive eines Rehbocks oder einer Totentrompete eben doch nur ein manchmal sehr bemühter menschlicher Blick sei.

Trotzdem: über Raum und Zeit verbindet eine Art Mycel aus Schuld und Vergebung die toten und lebenden Generationen, die Flora und Fauna, die belebte und unbelebte Natur mitsamt den zugehörigen Mythen. Wer von außen hereinkommt und dafür einigermaßen offen ist, wird in dieses Geflecht aufgenommen. Wer von außen kommt und selbst nicht offen genug ist, dem bleiben die Läden verschlossen, der wird nicht aufgenommen.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Einige konten berichten, dass der Weg in dieses Buch mühsam war, es dann aber immer leichter zu lesen fiel, bis es am Schluss fast schon zum page turner wurde. Die Autorin erzählt zweigleisig, einmal von einer Autorin (wer denkt da nicht an Strubel, die ein Stipendium in Finnland hatte?). Sie ist auf der Suche nach einem Stoff und trifft die blaue Frau, deren Geschichte sie dann in einem zweiten Erzählstrang wiedergibt. Das ist nicht unumstritten! Denn: Ist die blaue Frau tatsächlich die Protagonistin der zweiten Erzählung? Und warum bitte „blaue Frau“? Wofür steht die Farbe? Der zweite Erzählstrang, die Hauptgeschichte führt von der tschechischen Bergprovinz mit arroganten Westtouristen und sexuellen Anzüglichkeiten nach Berlin. Gedacht als Flucht in die Freiheit landet Sala aber bei einer exzentrischen Fotografin und deren feministischen Freuninnenkreis, die ihr kaum Raum zu Entfaltung lassen. Flugs gehts weiter an ein entlegenes Gut an der Oder, nur um dort in den dunklen Machenschaften eine Möchtegern-Kunstvermittlers zu landen, der seinem Geldgeber osteuropäische Prostituierte (korrekter: sich prostituierende Osteuropäerinnen) liefert. Für Sala bedeutet das: Vergewaltigung und brutaleste Freiheitsberaubung. Knapp entkommt sie auf wirren Wege nach Finnland, um sich dort in einen hochnäsigen Menschenrechtsaktivisten zu verlieben. Der ihr aber nicht etwa zu ihrem Recht verhilft, sondern ausgerechnet ihrem Vergewaltiger einen Preis verleiht (Zufälle gibts, man glaubt es kaum). Also: Opfer auf voller Länge. Die Protagnistin tritt mit drei verschiedenen Namen auf (einem tschechischen, einem für ihren Vergewaltiger und einem finnisch-estnischen), sie selbst sieht sich immer wieder als letzten Mohikaner (maskulin!). Nicht nur in einer virtuellen Welt nennt sie sich so, sondern imaginiert sich den letzten Mohikaner auch als Beschützer in der Not und als Rächer herbei. Zum befreienden Racheakt am Vergewaltiger kommt es letztlich nicht, denn warum soll sie denn immer alles machen?

Nun ja. Das Buch ließ ein paar Fragen offen. Zum Beispiel, ob diese Rollenverteilung Frau/Osteuropa/Opfer und Mann/Westen/Täter nicht zu klischeehaft ist? Oder vielleicht auch nicht mehr ins Heute passt, sondern eher Ende des letzten Jahrtausends vielleicht noch Gültikeit hatte? Und natürlich die über allem schwebende Frage, warum dieses Buch eigentlich den Deutschen Buchpreis bekommen hat?

Katie Kitamura: Intimitäten

Noch eine Frau, die es nicht einfach hat. Diesmal auch berufsbedingt, dann als Dolmetscherin ist sie nur Sprachrohr, darf keine eigene Person sein. Muss sie emotionslos die übelsten Gräuel übersetzen. Flüstert sie einem Menschenschlachter ins Ohr wie einem Liebhaber. Und freut sich dann fast noch mit, wenn dieses Monster für das sie übersetzt frei gesprochen wird. Findet sie Ausgleich im Privaten? Nö. Sie ist nirgendwo auf der Welt zuhause und auch in Den Haag findet sie keine eigenes Zuhause. Statt in ihrer eigenen Wohnung lebt sie in der Wohnung ihres Liebhabers – während der in Portugal monatelang mit seiner Frau die Scheidung bespricht (wers glaubt wird seelig!). Die Dünen, der einzige Ort, den sie aus ihrer Kindheit kennt, besucht sie erst am Ende des Buches. Bis dahin hat sie ihren Job gekündigt (schon wieder kein Ankerpunkt), klebt aber noch an dem Lover, der endlich aus Portugal zurück kommt. Die Autorin lässt sie namenlos und zeigt sie uns nirgendwo bildlich, sie bleibt ungreifbar, wie eine Stimme im Kopfhörer aus einer unbeleuchteten Kabine hinter einem.

Kritik gab es daran, dass das Dolmetscherdasein nicht gut genug ausgelotet worden sei. Dass es Nebengeschichten gab, deren Funktion nicht erkennbar war (der niedergeschlagene Antiquar, der schleimige Anwalt).

Ihr seht, ich kann nur grob den Inhalt widergeben und kaum mehr.

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