Lucy Fricke: „Die Diplomatin“
„Lächeln, lügen, Lachs fressen“ – so lässt Lucy Fricke ihre Protagonistin das Diplomatendasein zusammenfassen. Dabei ist das nur einer von vielen pointierten Sätzen, die fast schon Kalenderspruchqualität haben und die locker über den Text gestreuselt sind. Ungemein spritzig auch die Dialoge die oftmals vor bösen Witz triefen. Doch nicht nur im Detail besticht das Buch, sondern auch im Großen und Ganzen, denn es ist spannend geschrieben und zieht einen schnell in seinen Bann. Kein großer Spionagetroman, sondern ein desilussionierender Einblick in den Berufsalltag der Diplomaten, die keine großartigen, weltmännischen Strippenzieher sind, sondern sich der Enge des Protokolls unterwerfen müssen.
Mit den literarischen Fertigkeiten der Autorin waren wir recht schnell fertig, dafür haben wir umso länger über diesen seltenen und authentisch wirkenden Einblick in die Welt der Botschafter und Konsule gesprochen. Und hätten dies sicher noch länger tun können. Aber auch uns hat schnell die Pflicht gerufen und wir mussten weitereilen. Deshalb zu diesem Buch nur noch schnell zwei Bemerkungen: a) die Montevideo-Geschichte am Anfang wirkte wie aufgepropft und nicht nur ein Leser vermisste, dass sie nie wieder aufgegriffen wurde – schlechtes schriftstellerisches Handwerk oder soll uns das zeigen, dass Diplomaten wild in der Weltgerschichte herrumreisen und ihre vorherigen beruflicen Stationen einfach ab haken? Wer weiß?! Und dann noch b) mir zumindest hat der Handlungsstrang mit der Mutter nicht gefallen, da wirft sich die Autorin den Lesern zu sehr an den Hals und will wohl zeigen, dass die taffen Diplomaten halt auch nur Menschen sind wie du und ich und Probleme mit ihren Eltern haben? Ist aber vielleicht auch Geschmackssache.
Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier
Das Buch wurde von einigen nicht fertig gelesen – ich geb es zu: auch von mir nicht. Bei einigen lag das auch am Thema: Tierarzt missbraucht Bauernmädchen. Das wäre die Kurzfassung. Die Beiträge derjenigen, die das Buch aber gelesen hatten, zeigten, dass der Text Stück für Stück eine komplexe und kunstvoll verwobenen Geschichte, einen regelrechten Motiv-Teppich zusammensetzt. Das Geschehen wird vom Tierarzt aus der Rückschau erzählt und erreicht uns nur, nachdem es durch ihn gefiltert wurde.
Doch auch diejenigen, die den Text fertig gelesen hatten, wussten nicht so recht, was der Text ihnen denn nun gesagt hat. Spannend und eskalierend sei er gewesen. Eine vergleichende Lektüre mit Nabokovs „Lolita“ könne sich eventuell lohnen. Das Mädchen schwankt zwischen den Geschlechtern, der Autor ebenfalls. Dass er selbst ein Missbrauchsofper ist, entschuldige das Tun des Tierarztes nicht, wäre sogar eine Schwäche des Romans. Einige der Figuren wären psychologisch überzeugend gezeichnet … Deshalb hier dieses Fazit: Obwohl lesenswert, blieben am Schluss doch viele Fragen offen. .
Olga Tokarczuk: Anna In: Eine Reise zu den Katakomben der Welt
Tokarczuk stellt ihrem Text einen langen Prolog voran, in dem Sie nicht nur begründet, warum sie den Text schreibt, sondern ihn auch vorab interpretiert. Was dann folgt ist eine Variante des uralten kulturübergreifenden Mythos, ob es etwas gibt, mit dem man den Tod überwinden kann – und ob das am Ende gar die Liebe sein könnte. Die Autorin spielt mit Gegensätzen (oben-unten, hell-dunkel, Gott-Mensch, Leben-Tod) und den zwei Seiten der Medaille (weshahl sie wohl den Namen Anna In stets auch in seiner Umkehrung In Anna nennt). Sie zeigt männlich Götter, die empathielos gegenüber ihrer Schöpfung sind, der Macht recht begrenzt ist und die ihre Macht bürokratisch verwalten. Die menschlichen Männer sind Schöngeister – Friseure und Gärtner. Und zumindest Letzterer lässt seinen Geliebte angesichts des Todes im Stich. Wie anders dagegen die Frauen: das ist die bis zur Erschöpfung loyale Dienerin, die weise Frau mit dem Wissen über die Vergangenheit, die weibliche Göttin, die als Einzige sich um ihre Schöpfung sorgt und sich kümmert. Vielleicht ein wenig dick aufgetragen, aber damit wird die Polarität unzweifelhaft heraus gearbeitet.
Polar ist übrigens auch die Einschätzung, ob der Text denn nun eher dystopisch oder optimistisch ist. Der eine las es so, der andere anders.
Was finden wir noch in dem Text? Anspielungen auf den Holocaust. Rikschafahrer, die mit ihrem Fahrzeug verwachsen. Aufzüge, die auch horizontal fahren. Heerscharen von Dämonen, die über die Stadt hereinfallen. Eine Stadt, die so hoch wächst, dass unten alles im dunstigen Nebel vegetiert, während oben eitel Sonnenschein herrscht.
Und noch was? Wunderschöne Bilder. Wunderschöne Sprache.
Fazit: ein schöner Text der Literaturnobelpreisträgerin. Nur eines ist unangenehm: man muss „Fantasy“ abkönnen, sonst wird man mit dem Text nicht warm.