Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht
Das Urteil über dieses Buch war alles anderes als einhellig und reichte von Nichtfertiggelesen weil „ich fands dann zu langweilig“ bis zu „ich fand das superspannend“, weil eine politische Idee (die der schön geredeten Vergangenheit) konsequent weitergedacht wurde.
In meinen Augen bestand das Werk aus drei Teilen, die nacheinander erzählt wurden: ein therapeutischer Ansatz für einzelne Demenzkranke, die in Spezialkliniken in den Wunschräumen ihrer Jugend ihre Erinnerungen wachhalten; einem kollektivtherapeutischen Ansatz in dem ganze Gesellschaften ihre nationalen Hochphasen wieder aufleben lassen, mitsamt kollektiven erbaulichen Schauspielen (bei denen schon auch mal eine ganze Menschenmenge von einer überdimensionalen Flagge bedeckt werden kann – und dem dadurch drohenden Erstickungstot nur entkommt, indem Säbel die Fahne zerfetzen; oder ein Nachfahre des österreichischen Thronfolgers beim Reenactment das gleiche Schicksal erfährt, wie sein Vorfahr und dergleichen mehr); und einem dritten Teil, in dem der Ich-Erzähler selbst dement wird.
Innerhalb der drei großen Teile findet der Autor immer wieder Gelegenheit, Erzählungen einzuflechten, die einzelne Erinnerungs- und Vergessens-Aspekte aufgreifen (weil eine demente Frau beim Duschen Panik bekommt, wird aufgedeckt, dass sie im KZ war; ein Spitzel erzählt seinem dementen Spitzelobjekt von dessen Leben und edelt damit seine Spitzeltätigkeit etc.).
So weit der horizontale Aufbau des Buches. Darunter lag noch eine zweite Schicht, in der es um das Verhältnis des Autors zur Wahrhaftigkeit seines Erinnerns und damit auch seines Erzählens ging. Dies meine jedenfalls ich gelesen zu haben. Angefangen mit dem ersten Satz von „Moby Dick“: Nennt mich Ismael. Ein Satz mit dem ein Ich-Erzähler von vorn herein darauf hinweist, dass er nicht zwingend die Wahrheit sagt … und gleichzeitig einer der ersten Sätze von Gaustin, von ihm nur leicht variiert. Überhaupt: Gaustin. Eine erfundene und zum Leben erwachte Figur? Ein Alter Ego des Ich-Erzählers? Eine Abspaltung seiner multiplen Persönlichkeit? Banalerweise nur ein Bekannter des Ich-Erzählers? Oder braucht und erfindet der Ich-Erzählier ihn, damit er diese irre Geschichte erzählen kann? Und wie steht denn der Ich-Erzähler zum Autor? Erzählt uns der Autor von sich und erinnert er sich überhaupt?
Schließen könnte ich mit den Worten von D. – „Boah, da sind so viele irre Geschichten drin“ – aber stattdessen will ich mir und meinem Narzissmus das Schluss-Statement überlassen, weil ich mal über das Zeitverständnis von Augustinus nachgelesen habe, auf den der Name Gaustin verbweist. Vor Augustinus (der um 400 nach Chr. lebte) war Zeit ein purer göttlicher Mechanismus, dessen Verstreichen man durch die Beobachtung der Himmelskörper bestimmte. Augustinus holte das Subjekt, die einzelne Person in die Zeit: laut ihm gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Zeit ist wie ein langer Film, den wir durch einen schmalen Sehschlitz sehen; Gott kurbelt den Film vor unseren Augen weiter. Wir nehmen nur die Gegenwart wahr. Vergangenheit ist nur unsere Erinnerung und Zukunft nur unsere Erwartung. Gospdinov toppt Augustinus und ist eigentlich in zweifacher Hinsicht ein Anti-Augustinus: a) Bei Augustinus hat die Zeit noch immer einen eindeutigen und unumkehrbaren Verlauf, einfach, weil Gott es so will. Bei Gospodinov kehre die Menschen den Lauf der Zeit um und kehren zurück in ihre Wunschvergangenheit, ihre Erinnerung materialisiert sich – Augustinus würde sich im Grab rumdrehen. b) Alzheimer zerstört die Erinnerung und letztlich auch die Erwartung der Zukunft damit, bleibt nur noch das kleine Sichtfenster der Gegenwart auf den Film der Zeit. Nun hab ich aber dick genug aufgetragen und komme jetzt endlich zu:
Abdulrazak Gurnah: Die Abtrünnigen
H.-D. bekennt: „Das fand ich das beste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.“ Es sei grandios erzählt und der Autor habe den Nobelpreis nicht zu Unrecht bekommen. Dieser Einschätzung schlossen sich – wenn ich mich nicht täusche – alle an, oder? Naja, ich fands ein wenig langatmig. Und Di. sagte, „mich hat vieles an dem Buch nicht überzeugt“. So stieß der Schluss (die letzten Seiten, auf denen nach mehreren Generationen erstmals wieder ein Kontakt zwischen entfernten Familienteilen entstehen soll) nicht bei allen auf Verständnis. Hervorgehoben und geschätzt wurden aber: die ruhige Art des Erzählens, die genaue Darstellung von Gedanken, Abwägungen, Beweggründen einer Person und dass, vom Fokus auf eine Person ausgehend, ein immer weiter reichendes detailliertes großes Bild entstand und dass ein und die selbe Situation in den Augen der Kolonialisten und in denen der Einwohner sich ganz anders darstellt und und und … und dann gab es noch einen Exkurs zur verzerrenden und verkleinernden Darstellung Afrikas auf Karten. Da. hat hierzu auf die Website „the true size of“ aufmerksam gemacht: Link
Was ich heute auch noch gelenrt habe: Der Orginaltitel ist „Desertion“ und bezeichnet (im Unterschied zum deutschen Titel) keine Personen, sondern einen Zustand oder auch einen Prozess, nämlich den, hilflos und ohne Unterstützung zurückgelassen zu sein. Und so war das ja für eine ganze Reihen von Figuren in diesem Roman: für die zentralen Frauenfiguren, die eine Beziehung zu den falschen Männern hatte, selbst für die Kolonialisten, die fern der Heimat und von ihren Frauen getrennt, „hilflos“ waren, und auch für den nach England ausgewanderten und dort nur dürftig geduldeten Rashid.
Sebastian Hotz: Mindset
Doch, die Wogen schlugen auch bei diesem Titel hoch. Es gab einiges zu diskutieren und unterschiedliche Einschätzungen. Er liest sich gut und – vom Autor selbst gelesen – hört der Text sich auch ganz angenehm und unterhaltsam an. Er zeichnet ein Bild der Generation Z, ihrer Internethörigkeit, ihrem Grundgefühl, ein Anrecht auf mehr zu haben, als sie bekommen, ihrer Vorstellung, dass Influencer zu sein, erstrebenswert sei und auf irgendeine Art auch eine legitime, ihnen zustehnde Rolle sei.
Oder ging es eher um einen Teil der Generation Z? Den kleinen Teil der Loser, die sich in ihre Traumwelt von Reichtum und Prestige flüchten, einen Traum, des sie nur für sich allein im Internet und in billigen Seminarräumen in Provinzhotels leben können. Denn strampeln und schuften lohnt sich nicht, man endet nur wie ein gescheiterter Handlungsreisender für einen Butterspender – belacht und verarmt. Darum kann man es ja gleich sein lassen und in seiner „Selbsthilfegruppe“ kollektiven Selbstbetrug betreiben, von Bedeutung nur träumen, das aber ausgiebig. Ein kleiner harmloser Selbstbetrug, der niemandem schadet. So wird, wer anfangs mit dem Ziel antrat, Wolf zu werden, am Ende zum Schaf, aber immerhin mit übergestülptem Wolfskostum.
Erzählt wird das Ganze übrigens von einem echten, erfolgreichen Influencer genau der Generation, um die es hier geht. Böse Zungen – kolportiert von Hans-Dieter – behaupten, er habe mal ein Buch schreibne müssen, damit auch über diesen Kanal Geld fließt.
Statt mit einem Exkurs zu Augustinus oder einem anderen alten weisen Mann, möchte ich mit J.’s gequältem Beitrag zu diesem Titel schließen: „… es hat mich soooo gelangweilt …“.