Hutzellese (Juli 2023)

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin

Es gab sie natürlich, die verhaltenen bis kritischen Stimmen, die bemängelten, dass das Lesevergnügen etwas eingeschränkt war. Dass man zu wenig Roman bekommen habe, zu wenig Handlung. Dass die starke Dialoglastigkeit des Textes und das Setting vieler Szenen etwas von einer Theateraufführung habe (Hey! Vielleicht wäre der Text genau dafür sogar ganz gut geeignet?!).

Was positiv aufgenommen wurde: die Autorin ist Zeitzeugin des sehr spannenden kurzen Zeitraums der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Deutschlands und zeichnet das Bild einer düsteren Phase, die später durch ein komplett anderes Narrativ ersetzt wurde: wir alle haben gelernt, dass Deutschland befreit wurde und die Alliierten begeistert empfangen habe, dass es demokratisiert und einigermaßen erfolgreich entnazifiziert wurde, jedenfalls Westdeutschland; Ostdeutschland wurde in stalinistische Geiselhaft genommen und versank nahtlos in der nächten Diktatur. So etwa soll das gewesen sein. Tergit erzählt die Geschichte einer gekränkten Bevölkerung, die dem Hitler-Regime nachtrauert und den Kommunisten etwas abgewinnen kann. Und die Geschichte von Besatzern, deren Politik teilweise kaum besser, kaum demokratischer oder humaner war, als das Naziregime. Uups, da könnte man nun lange politische Diskussionen führen.

Wir aber schauen, was der Text sonst noch bietet: Das Ganze ist teilweise als überzeichnete Karikatur, als Satire geschrieben (die mondäne junge Frau, die uns als Dummchen im irrwitzigen Abendkleid begegnet etc.). Die Szene gegen Ende am Ufer der Elbe erinnerte (in Daniels Worten) an einen Bahnhof mit einem Gewirr an Durchreisenden – ich musste natürlich an den Styx denken, der seltsamerweise in beiden Richtungen überquert wird – durchschwommen wird, wer wartet denn noch auf den Fährmann.

Offen blieb, ob die Autorin die Zweisprachigkeit als bewusstes Stilmittel (wie im Nachwort behauptet) eingesetzt hat oder ob es (wie nicht nur von mir vermutet) ein Zeichen für die Vorläufigkeit des Textes ist.

Obwohl der Text von der Autorin so nicht angelegt worden sein kann, hat er Bezüge zu heute und einige der dargestellten Diskussionen könnten auch heute noch stattfinden. Und damit gingen wir dann zum zweiten Buch über, dass ganz maßgeblich von dieser Idee durchdrungen ist: die Vergangenheit beschreiben, aber die Gegenwart meinen:

Eugen Ruge: Pompeji

Eugen Rugen erzählt mit Pompeji weniger über eben jene Stadt, sondern vor allem über unsere Gegenwart und über unsere Zeitgenossen (von Wissenschaftsleugnern, Fake News, machtgeilen Politikmarionetten, Strippenziehern im Hintergrund und dem Weltuntergang, der uns trotzdem bevorsteht, auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen).

Aber halt, man täte dem Autor unrecht, wenn man alles ausschließlich als Parabel auf die heutige Zeit lesen würde. Denn immerhin liefert er auch ein detaillreiches und süffiges Bild der Lebens im römischen Reich um 80 n. Chr. – mag sein, dass manches Detail der sehr präsenten Erzählstimme nicht ganz so oringalgetreu gerät, vielleicht wird uns hier und da etwas untergejubelt, was Historiker verärgern würde. Aber es ist halt schon witzig und im Detail für Leser wie mich neu, wenn man etwas über die städtischen Verkehrsregeln erfährt (Lieferverkehr nur nachts) oder über den Speiseplan der Reichen (Wachteln mitsamt Knochen) und der Armen (Käsefladen), wenn perspektivische Tricks der Innenarchitekten erläutert werden, die es einem stillosen Neureichen erlauben, die Größe seiner Räume wenigstens vorzutäuschen. Oder dass selbst wenige Dutzend Kilometer von Rom entfernt sich schon kulturelle Konflikte auftuen, weil die Kolonie Pompeji nicht das volle Stadtrecht hat, man dort seine traditionelle Sprache nicht mehr spricht etc. pp. Oder das der große Universalgelehrte Plinius ein kaum mehr zurechnungsfähiges körperliches und – ja, auch: – geistiges Wrack ist.

Gelegentlich verhakt sich das Lesen an Formulierungen, die nicht zu passen scheinen, an Bezügen, die gar zu sehr auf heute bezogen sind – aber hey, können wir das dem sympathischen Erzähler übel nehmen? Der sich immer wieder an uns wendet, uns anspricht und uns versucht seine Geschicht begreiflich zu machen? Vielleicht gehört es ja zu seinem rhetorischen Instrumentarium, uns das eine oder andere mit einer leichten Verdrehung der Wahrheit nahe zu bringen.

Denn auch darum geht es Ruge: um das Verbiegen der Wahrheit und sich selbst! Von ganz unten taucht ein formbares und williges Menschlein auf, Josse, bereit, auf dem Weg nach oben alles zu tun, was man von ihm will, dabei ist er gar nicht machtgeil, sondern einfach nur geil … und hungrig und will seine zerschlissenen Kleider loswerden und wenn er Sex und andere körperliche Befriedigungen nur bekommt, indem er sich zur Marionette der Drahtzieher macht? Warum nicht?! Da wird man schon mal zum Wendehals, da gibt man schon auch mal zu, dass man genauso lügt, wie der politische Gegner, dass man es aber schöner tut.

Danke an B.: dass mit dem Metzgersohn Josse der Metzgersohn „Joschka“ Fischer gemeint sei und Ruge seinen Text als Kritik an den Grünen meint, dass war mir in dieser Deutlichkeit nicht klar. M. hat noch auf den neuen Direktor des Museums in Pompeji aufmerksam gemacht, er trägt den schönen deutschen Namen Zuchtriegel und beschreibt in seinem neuesten Buch ebenfalls Parallelen zwischen damals und heute: „Vom Zauber des Untergangs: Was Pompeji über uns erzählt“.

Toni Morrison: Rezitativ

Hier tu ich mir mit der Besprechung schwer. Ich selbst kam wir während der Lektüre so vor, wie wenn man mich in eine Fragestellung zwingt, die für mich lange nicht die zentrale Bedeutung hat, wie für die Autorin und ihre Nachwörtlerin: welche der beiden Protatonistinnen welche Hautfarbe hat, ist mir relativ egal. Der Text spielt mit der Offenheit dieser Frage, vor allem aber hakt die Nachwortschreiberin darauf herum, dass es eine wahre Pracht ist. Ich für meinen Teil hab aus dem Text heraus gelesen, dass es wohl recht egal ist, welche Hautfarbe man hat, man kann so oder so Underdog sein oder zur upper class gehören. Das wusste ich aber schon vorher. Diese Fixierung darauf, wissen zu müssen, welche Hautfarbe jemand hat, um sein Handeln beurteilen zu können, kommt mir sehr amerikanisch vor. Erwischt … bezüglich „amerikanisch“ hab ich Vorurteile.

Erstaunlich fanden wir, dass die beiden Protagonistissen sich nicht mehr erinnern konnte, was mit Maggie war. Weder wissen sie, ob sie sie misshandelt haben, noch wissen sie, welche Hautfarbe sie hat. Ich für meinen Teil finde das eine unglaubwürdige Gedächtnislücke, so meisterhaft zu verdrängen, das muss man auch erstmal schaffen. Meine Missetaten als Achtjährigen waren mir schon damals als solche bewusst und verfolgen mich bis heute …

M. konnte noch eine historische Einordnung bieten: weiße und schwarze Kinder wurden in den 70er in Schulen geschickt, in denen sie die Minderheit waren. Die Rassenschranken sollten damit aufgebrochen werden. Eltern demonstrierten dagegen.

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