Wenn es eine Odysee wäre …

Wo einst sich Ilion erhob, zerstört der Griechen Hand die Pracht: Noch sieht man die alte Schönheit, doch Teile liegen schon in Trümmern. Ein Turn allein steht noch. Bald wird auch er fallen und mit ihm der sich drehende Stern.

Ein Schuppenpanzer aus bleigraue Wolken liegt über der Stadt, als Odysseus als einer der ersten ablegt. Mühseeliges Verstauen des übergroßen Gepäcks, der schweren Beutestücke. Was Homer verschwieg, der sonst so viel erzählte: viele Frauen sind an Bord. Eine mit blond gesträhntem Haar, goldenem Ohrgehänge und silbernem Armreif. Eine Amazone mit heller Haut und dunklen Augen. Die ausgebrannte Brust hat Homer erfunden, beide sind da und unter dem Tuch, das sie sich gegen den Fahrtwind über die Schultern warf.

Mütter mit Kindern im Gefolge irren durch den Wagen. Jedes der kleinen mit einem Bündel seiner Habe auf dem Rücken, gefolgt vom Vater und Ohm, die das Hab und Gut hinter sich herzerren.

Nun nimmt das Schiff fahrt auf und der sich drehende Stern, das Wegzeichen gerät außer Sicht. Pfeilgerade der Kurs. Hügel wie Wellenberge. Tunnels zerhacken den Tag. Schwarzglänzende Solarpaneele, aufgereiht wie die Schilder der Griechen am Strand.

Eine Trojerin mit brauner Haut. Das lange Haar glatt und in der Mitte gescheitelt fällt weit über ihre bloßen Schultern und verdeckt die dünnen Träger ihres Tops, so dass es von hier scheint, als ob sie kein Gewand trüge. Nun wirft sie sich ein silberdurchwirktes Gewand über. Ein schmaler Mund, die Lippen zusammengepresst, sie tastet über ihr Handy, liest einen Orakelspruch und spricht nun gar mit fernen Göttern, ihre Augenbrauen tiefschwarz und halbrund, wie der Eingang in den Hades.

Regenschauer auf der Scheibe, Wasser fließt zusammen und perlt wie auf einem Segel ab.

Mitreisende reichen sich Aluminiumkugeln, gefüllt mit Obst und Früchten, wie Opferschalen.

Es nahen die Kontrolleure mit priesterlichen Ritualen. Sie werden begrüßt mit ängstlich-hoffnungsvollen Blicken, dem Hinreichen der Gaben zur Besänftigung der Götter, dass diese den Weg frei geben mögen. Gnädiges Gestatten durch die Priester. Sie setzen ein göttliches Zeichen auf die dargebotenen Tickets.

Ein Kind steht verzweifelt und allein, es winkt mit hoch erhobenem Arm den Göttern dort oben in ihrer Wirkstatt, sie mögen ihm Einlass gewähren, es wieder mit Mutter und Vater vereinen und tatsächlich öffnet sich von unsichtbarer Hand gezogen die Glastür in den Großraumwagen.

Kassandrarufe in ein Handy verkünden die Zukunft am Ferienort: 32 Grad und sonnig. Nächster Halt Frankfurt/Flughafen.

Weiterfahrt: Ein bärtiger Jüngling zeigt stolz die Erinnerungen an seine Abenteuer, seine Heldentaten, seine Gefährten und Gelage auf seinem Smartphone.

Gelegentlich windet sich der ganze Zug auf den Schienen und aus seiner Tiefe dringt ein Knurren empor, wie das des Cerberus. Aus der Höhe herab verkündet eine Stimme verheißungsvoll unser Ziel. Die Mitreisenden lesen aus ihren Smartphones Vergangenheit und Zukunft, wischen und rühren darin wie in einem Knochenorakel, wie im Gedärm der Opfertiere.

Am Hauptbahnhof in Frankfurt wechselten wir das Schiff. Meine Gefährten gingen mir verloren. Nun hüpft der Alterdurchschnitt nach oben. Auch beim Personal. Und die Richtung ist nun eine andere: Osten. Der Trojanische Pferdeschwanz – was auch immer diese Anspielung bedeuten mag – ist auch hier verbreitet. Und auch das Tier, das einem übergroßem Insekt gleich ins gebündelte Haar der Frauen beisst und dieses zusammenhält.

Nur eine blonde Amazone ist noch an Bord. Ein schafwollener Pulli mit zwei Hügeln. Doch keine Amazone? Doch eher eine junge Priesterin der Athene? Sie liest. Zerkaut das Gelesene mit Kaugummi.

Ermattet hängt eine Herapriesterin auf ihrem Platz. Das graue Haar fällt in Strähnen ins Gesicht. Sie lauscht Morpheus Befehlen und nickt demütig dazu. Eine Spiralscheibe hängt am Hals, hebt und senkt sich im Atem auf dem Brustbalkon.

Der Kaliberg vor Fulda. Wem wird hier ein Berg mit weiß-braunen Flanken aufgehäuft? Später noch ein Gegenstück dazu in Thüringen. Grüßen sich die beiden nachts mit Leuchtzeichen?

An einem thüringischen Sakamander entlang, nassfüßige Weiden. Dann Birken in kleinen Gruppen erst, später ein ganzer Wald. Wie zusammengedrängte, wie aufmarschierende gertenschlanke Griechen.

Eine dichte Wolkenschicht über uns. Unter der wir dahingleiten. Wie unter See. Da vorn eine riesige Meduse, eine Qualle, ihr Körper entlässt graue Haarschleier nach unten, Regenfäden.

Die Athenepriesterin legt sich im Sitz zurück, wölbt einen dritten Hügel unten den beiden oberen nach außen. Die Hände liegen locker gelöst auf den Schenkeln, nahe des Dreiecks. Unbestimmter Blick in die Ferne. Das Haar als feste Kugel gezwängt – wie ein aufgesetzter Schrumpfkopf. Kugelfolter für das Haar.

Der Zug wirft sich mit uns Passagieren hin und her wie durch die spielende Götterhand gewürfelt, ein ächzen von Metall zieht sich durch seinen stählernen Leib. Eine Weiche.

Die Landschaft endlose Äcker jetzt. Flacher die Hügel. Wie sanftes ruhiges Meer.

Die Athenenovizin hört einen Götterspruch. Gott Milena ist ihr nicht gewogen und wird sie nicht empfangen: ja, das versteh ich, macht nichts, bin ja ein paar Tage da. Sie trägt eine Art Schlange um die Hüfte. Eine Tasche im Indian-Tribal-Style. Oh ihr Götter! Sie liest ein Gesetzbuch. StGB. Studiert sie am Ende VWL?

Gelb und rot züngeln schwarzastige Bäume und Büsche wie Troja in seiner letzten Nacht. Drei Schafe grasen im Vorgarten des Bahnwärterhäuschens. Kein goldenes Vlies. Schwarzerdige Äcker mit Krähen wie die Schlachtfelder von Ilion.

Da kommt Leipzig Hauptbahnhof.