Lieber Onkel Onofried,
heute morgen bin ich nach langem und erholsamen Schlaf erwacht und fühlt mich, auch wenn das abgedroschen klingt, wie neu geboren. Erst war mir nicht klar, warum ich mich so anders fühle, als in den letzten Wochen. Dann, als ich über einem Milchkaffee saß, die Beine auf der Terrassenbrüstung und die Morgensonne im Gesicht, fiel mir ein, Mensch, gestern abend war ja das Fläschchen mit der Tinktur von der guten alten Hedwisch leer und du konntest gar nicht ihrem Ratschlag folgen. Du musst nämlich wissen, Hedwisch, deine Schwester, also meine Schwägerin, hat mir zur Abreise ein Fläschchen mit einer – wie sie es nennt – stärkenden Tinktur gegeben. Davon solle ich jeden Abend 20 Tröpfchen nehmen und ich würde den nächsten Tag meistern.
Du weißt, ich war ihr immer ein guter Cousin und darum hielt ich mich bisher an ihren Rat, nun, da das Fläschchen leer ist, wundere ich mich ein wenig, was ich in den letzten Wochen hier erlebte. Es grenzte ja an Hysterie, jedenfalls, wenn ich meinen Berichte lese, die ich dir täglich geschrieben habe. Ich fürchte, die gute Hedwisch hat sich beim Zusammenbrauen ihrer Tinktur vertan.
Du kannst nun wieder ruhigen Gemüts zum abendlichen Treffen unseres Philosophenclubs gehen. Von mir geht keine Gefahr mehr für „Republikaner“ und andere Freidenker aus. Niemanden werfe ich das Sofa auf die Straße und erst recht werfe ich keine dubiosen Gaunerin mein teures Geld hinterher. Der einzige, der sich vor mich fürchten muss, ist der örtliche Adel, den mich mit der scharfen Waffe der Missachtung strafen will. Du siehst, ich bin wieder ganz der alte! Unseren Freunden im Philosophenclub kannst du einen Lesetipp von mir ausrichten. Gestern stieß ich in der Bibliothek auf ein Buch mit dem seltsamen Titel „1Q84“. Doch, genau so, das ist kein Schreibfehler. Darin geht es um eine Parallelwelt in der einiges anders ist, als in der gewohnten Welt, und in die man durch eine kleine Kleinigkeit gelangen kann – vielleicht, indem man Hedwischs Tinktur nimmt? Nein, im Ernst, das Buch ist lesenswert. Musst du dir mal beschaffen.
Irgendwie waren die Leute hier ja ganz schön übel drauf, mich eingeschlossen. Man kann wohl sagen: die hatten alle einen Knall. Dabei hatte doch nur ich die Hedwisch-Tinktur zu mir genommen. Ich könnte wetten, dass es gar keine Principessa gibt, jedenfalls keine, die nach dem hiesigen Strandbad benannt ist.
Tja, was mache ich jetzt? Ich denke, ich verlasse diesen Ort und wandere in eine andere Gegend. Es gibt auf der Welt doch noch so viel zu sehen, da muss ich hin.
Übrigens solltest du mir bei nächster Gelegenheit mal verraten, wie man den Namen der guten Hedwisch richtig schreibt, ich bin mir da immer ein wenig unsicher und schreibe ihn nun dem Klang nach.
Was meine langfristigen Pläne betrifft, so weiß ich noch nicht, was ich machen werde. Ich interessiere mich doch für sie viel. Vielleicht werde ich ja Ahnenforscher und bringe ein wenig Klarheit in den verworrenen Stammbaum unserer Familie? Was würdest du davon halten?
Wer weiß, wohin mich mein Weg führt. Schaun wir mal! Jetzt zieht es mich erst Mal in die Ferne!
Dein entfernter Verwandter