Digitalfotografie lässt die Zeit und die Menschen verschwinden

Zur Zeit der Filmdöschen und Laborauftragstaschen löste das Drücken des Auslösers eine lange Kette von Aktivitäten aus – deshalb heißt er ja Auslöser. Am Ende dieser Aktivitäten waren viel Zeit verstrichen und etliche Menschen beschäftigt gewesen, damit man seine Bilder vor Augen haben konnte.

Es muss in den 70ern gewesen sein, da dauerte es eine Woche, bis die Urlaubsbilder fertig waren (und ihr Betrachten einen in den Urlaub zurück versetzte – eine kleine Zeitreise mit Erholungseffekt, Aufregung, Freude und Enttäuschungen etc.). Vielleicht bilde ich es mir ein, dass es eine Woche war, also die mystischen 7 Tage, die der Herrgott brauchte, um eine ganze Welt zu schaffen. Aber gepasst hätte dieser Zeitraum ja schon zum Erschaffen einer Bilderwelt. Am Ende dieses Zeitalters, als die Filmdöschen sich schon langsam auf den Weg in ihre heutigen Nischen machten, waren die Fotohändler stolz, wenn sie die Übernachtentwicklung anbieten konnten. Über Nacht stand damals in der deutschen Sprache für quasi sofort, fast schon handstreichartig. Heute muss einem dies als gnadenlos langer Zeitraum erscheinen. Über Nacht ist Schnee von gestern.

Dabei wurde die Verkürzung von sieben auf einen Streich, äh, Tag aber nach den üblichen Methoden für die allgemein übliche Beschleunigung des Lebens erreicht: Bessere Maschinen, bessere Organisation, schnellere Arbeit – nichts Besonderes also. Stets wurden Zeit und Menschen benötigt.

Der Digitalfotograf drückt auf den Knopf und das Bild ist fertig – ohne Zeit und ohne Menschen, die daran arbeiten. Das meine ich mit dem Verschwinden der Zeit und der Menschen. Wo keine Zeit, da auch keine Menschen, die können nur in ihr sein.

Ein Analogbild entsteht zweimal: zunächst im Kopf des Fotografen, der die Realität um sich herum in ein imaginiertes Bild umwandelt. Das Bild ist nun ins einem Kopf. In manchen Fällen mag es auch anders herum sein, dass das Bild im Kopft des Fotografen entsteht und er dann etwas in der Realität sucht, was dem entspricht. Diese Unterscheidung wäre einen eigenen Blogbeitrag wert. Welche der beiden Varianten aber auch immer: am Ende der Auseiandersetzung von Realität, Imagination und Kopf des Fotografen steht der Druck auf den Auslöser. Eigentlich ist in diesem Moment die Fotografie in der Kamera verschwunden. In einem zweiten Schritt muss sie nun sichtbar gemacht werden. Sie wird entwickelt. Man achte auf die Formulierung sie wird entwickelt. Analogfotografie ist nicht in der Lage sich selbst zu entwickeln, sie braucht dazu das Mitwirken eines Menschen. Wer diesen Moment im Schwarz-Weiß-Labor jemals selbst erlebte, wird in kaum vergessen und immer wieder mit Spannung und Faszination verfolgen. Diese Sekunden, in denen ein leeres Papier in einer Flüssigkeit schwimmt, säuerlicher Geruch umgibt den Laborant, unwirklich rotes Licht beleuchtet die Szene, die Ursuppe wabert. Und dann sieht man erste Konturen und Flecken und während man zu erkennen versucht, was da entsteht, wird das Bild immer detaillierter. Das Erkennen und das detaillierter Werden geht so Hand in Hand, dass man sich kurz der Illusion hingeben kann, das Bild würde durch das Erkennen entstehen, dass der Blick das Bild auf die leere Fläche projeziert. Obwohl man genau weiß, dass es anders herum ist, dass das Erkennen dadurch erleichtert wird, dass das Bild tatsächlich innerhalb von Sekundnen sich vervollständigt. Und dann nimmt man es heraus, man schöpft es aus dem Wasser, man taucht es in Fixierflüssigkeit, damit die Papierbild gewordene Imagination für immer sichtbar bleibt. Dem Auslöser vergleichbar steht auch am Ende des zweiten Schrittes eine Zäsur. Denn jedes Bild strebt nur einem einzigen Endpunkt zu, dem Punkt, an dem es alles zeigt, was das Licht beleuchtet und dieses Alles ist für das menschliche Auge ununterscheidbare Schwärze. Deshalb muss die sichtbar gewordene Imagionation fixiert werden, die Entwicklung unterbrochen werden. Das Bild ist fertig.

Dieser komplette zweite Schritt entfällt bei der Digitalfotografie. Nach dem Auslösen ist das Bild sofort – ohne Mensch und ohne Zeit – verfügbar.

Und der erste Schritt? Ist der noch da? Ich glaube nicht. Denn tatsächlich verlagert die Digitalfotografie das fertige Bild auf das Display, bevor der Auslöser gedrückt wird. Die Imagination ist nicht mehr notwendig, der Digitalfotograf löst einfach nur in dem Moment aus, in dem das Display das gewünschte Ergebnis zeigt. Die Aufnahme ist schon vor dem Auslösen fertig.

Jede Digitalaufnahme beruht auf diesem Stolpern im Zeitablauf – das Zukünftige wird in der Gegenwart gezeigt. In diesem Zeitriss verschwindet die Imagination. Ausgerechnet ein „bildgebendes“ Verfahren wie die Digitalfotografie führt zum Verschwinden des wichtigsten bildgebenden Verfahrens, zum Verschwinden der Imagination.

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