Das Buch

Kollegin S. H. zettelt im Verlagsblog eine Diskussion übers Bücherlesen an. Sie bedauert die schwindende Bedeutung des Buches. Ich halte polemisch dagegen. Und zwar etwa so:

Das Buch in seiner gewohnten Form ist heute tatsächlich bedeutungs- und funktionslos. Es hat sich überlebt. Sein Abgang muss nicht beweint werden.

In Ecos „Name der Rose“ wird wunderbar die Aufgabe des Buches vor Gutenberg beschrieben. Es dient der Archivierung des Weltwissens. Und damit der Überlieferung von Weltbildern. Schrift zwischen zwei Buchdeckeln löst die mündliche Überlieferung ab und speichert viel verlässlicher. Doch vor Erfindung des Buchdrucks wird Weltwissen damit kaum verbreitet, entfaltet keinen Flächenwirkung. Die Wissensverbreitung ist keine räumliche, sondern einen zeitliche: das Wissen von gestern erreicht uns heute, das Wissen von heute wird in die Zukunft übertragen.

Nebengleis: In „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury wird eine Welt ohne Bücher beschrieben. Die Bevölkerung wird durch das Buch-Lese-Verbot unmündig gehalten. Feuerwehrmänner haben den Auftrag, aufgefundene Bücher zu verbrennen. Papier beginnt bei 451 Grad Fahrenheit zu brennen … Eine Gruppe Widerstandskämpfer rettet das Bücherwissen, indem sie Bücher auswendig lernen und mündlich überliefern.  Jeder Leser des Buches – bzw. Zuschauer der Truffaut-Verfilmung – erkennt die hilflose Widerstandgeste, kann doch durch diesen Medienbruch vom Buch zurück zum Mensch niemals die schillernde Komplexität der Bücherwelt erhalten bleiben.

Zurück zum Hauptgleis: Um 1450 herum entwickelt Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern. Druckerzeugnisse können daraufhin mit einem Bruchteil des bisherigen Aufwands erzeugt werden. Das Buch ändert seinen Charakter. Jetzt liefert das Buch den maßgeblichen Beitrag bei der Verbreitung des Weltwissens.

Doch nicht jedes Wissen findet Eingang in Bücher. Es sind zunächst vor allem zwei Texte, die in Büchern verbreitet werden: die Bibel und käufmännische Lehrbücher. Das Weltbild, dass durch Bücher verbreitet wird, ist also recht einseitig. Das Buch formt in der Menschheit ein christliches und kaufmännisches Weltbild, indem es Wissen vom Abendland und den Kaufmannstuben überall hin trägt. Wissen, das es nicht zwischen Buchdeckel schafft, gerät in Vergessenheit, verliert gegen Buchwissen.

Mit den Schiffen aus der „neuen Welt“ – einem Großteil der Welt: Amerika, dem Pazifikraum, Ostasien, Indien, Afrika – kommt Wissen nach Europa zurück. Wissen über fremde Völker, Tiere, Pflanzen, Naturschätze … und wie man diese dem Christentum zuführen und ausbeuten kann.

Was zwischen zwei Buchdeckel passt, wird greifbar und beherrschbar. Das Buch dient der flächendeckenden Eroberung der Welt. Eroberung eben auch im Sinne von geistiger Durchdringung. Der Bildungsgroman lässt grüßen.

Heute aber ist die Welt bis in den letzten Winkel durchleuchtet. Neues gibt es nicht mehr zu entdecken. Das Projekt der Moderne ist abgeschlossen, die Welt erobert.

Hinter Büchern steht der Wunsch, die „Welt“ (im weitesten Sinne) zwischen zwei Buchdeckel zu packen. Dieser Wunsch ist verständlich, wenn die Welt viele weiße Flächen hat. Columbus und in seiner Folge die Kolonialstreitkräfte haben die Welt inzwischen komplett erfasst. Menschen liefen sogar über den Mond. Radioteleskope liefern uns Informationen aus Raum und Zeit. Auch die Welt des menschlichen Geistes kann als erschlossen gelten. Genauso die Vielfalt der menschlichen Beziehungen. Was soll noch neues kommen? Was soll noch beschrieben werden müssen? Nichts mehr. Die Zeit, in der sich die wahrgenommene Welt ausdehnt und vertieft, ist beendet. Und damit auch die Notwendigkeit, sie ein ums anderes Mal beschreiben und neu schreiben zu müssen.

Wenn nichts Neues mehr dazu kommt, dann kann nur noch Vorhandenes kombiniert werden. Und genau das tut die Literatur nach der Moderne. Postmoderne Texte sprengen die Beschränkung der Buchdeckel und durchkreuzen das Konzept des Autors, der im besten Fall noch ein Kombinierer, aber kein Erfinder von Neuem mehr ist.

Jetzt – in der Ära der Postmoderne – geht es darum, die Vielfalt, Gleichzeitigkeit und Vielstimmigkeit der Welt zu nutzen, wahr zu nehmen. Und dazu taugen nun mal Tweets, Mails, Videoclips etc. viel besser.

Es geht eben nicht mehr um das (Er-)Finden neuer Welten, um dieses in die Tage gekommene Projekt der Moderne. Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht – vollständig. Jetzt wird nicht mehr ge-/erfunden, jetzt wird nur noch neu kombiniert, Vorhandenes zitiert, collagiert; Geschichte und Geschichten werden durch sich überlagernde Textschichten geschaffen; Bezüge zwischen allem und jedem hergestellt. Da stört das fix und fertige Buch nur, das ist viel zu unflexibel, das ist keine formbare Textmasse. Genauso wie „ein Autor“ nicht mehr zeitgemäß ist und die Grenze zwischen Autor und Leser sich aufgelöst hat.

Ich schwalle sinnlos? Ein funktionierender Blog (also nicht dieser hier, den niemand kommentiert) ist ein Beispiel dafür, dass Texte nicht mehr von einem Autor gemacht werden, sondern von den Lesern gemeinsam, dass die Textproduktion nicht mehr der Kontrolle „des Autors“ unterliegt. Und dass ein Text nicht fertig ist, sondern jederzeit weiter wachsen kann und Bezüge zu anderen Texten herstellen kann. Das Ergebnis ist nicht so interessant, wie die fiktive Welt eines Buches, nicht so sinnstiftend? Pah, Sinn, der ist es, der nicht zeitgemäß ist.

 

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