Mit Erscheinen des Buches rauschten die konservativen Feuilletons empört. Das sei keine Literatur, das sei ordinär. Vor kurzem nun kam die Verfilmung des Buches in die Kinos. Und nachdem ich den Film gesehen hatte – ein seichtes Filmchen, man kann seine Freizeit sinnvoller verbringen! – dachte ich mir, ich les mal das Buch. Ein guter Entschluss. Das Buch hatte alles, was gute Literatur ausmacht: eine stimmig und sehr konsequent gezeichnete Protagonistin, die man zwar nicht mögen muss, aber verstehen kann; genauso plausibel geschriebene Antagonisten; ein Konflikt, der zwar nicht gerade neu ist (heranwachsende Tochter im Konflikt mit Eltern und auf dem Weg der Abnabelung), der aber so, wie er geschrieben ist, sehr wohl neu und seiner Zeit angemessen ist.
Helen, die Ich-Erzählerin, will etwas ganz Banales und Kindliches, was eigentlich jedem FAZ-Kritiker gefallen sollte: sie will eine konventionelle Familie, in der die Eltern sich selbst und erst recht ihre beiden Kinder lieben. So ist das aber nicht, die Eltern sind geschieden und schlimmer noch: vor Jahren wollte die Mutter sich und den kleinen Bruder mit Gas umbringen (Zufall? Oder eine bewusst gewählte, deutsche Art der Tötung, ins Gas gehen?). Angst allein gelassen zu werden treibt Helen seither um. Und wie es sie umtreibt, denn an dieser Stelle verlässt der Text das tütelich Klischeehafte, die aus Grimms Märchen bekannte Konstellation und wird richtig scheiße. Sozusagen. Denn Helen stürzt sich in ein hochaktives Sexleben. Wir lernen sie zu einem Zeitpunkt kennen, an dem sie längst nichts mehr ausprobiert, sondern routiniert jeden Schweinkram macht, von dem wir alle wissen, dass es ihn gibt, der uns in der Literatur bislang aber vorenthalten wurde. Andere Mädchen im Alter der Protagonistin vernichten ihren Körper durch Bulimie oder Anorexie oder prostituieren sich für Drogen. Helen setzt sich gezielt den aller unsaubersten Sexpraktiken aus, als Gegenpol zum Reinlichkeitswahn ihrer Mutter. Wie passend, wo man doch auf Schritt und Tritt dem klinisch sauberen Frauenkörper der Werbung begegnet – keimfrei und oft schon leblos wie eine Gummipuppe. Dieses wahrhaft obszöne Frauenbild das den weiblichen Körper zur Schau stellt, bekleckert und beschmiert Helen nmit dem Ausfluss ihrer Feuchtgebiete. Mit einer Vielzahl wunderbar eklig beschriebener Details. Was noch? Der Katholizismus wird abgewatscht. Die Autorität schnöseligen Klinikpersonals wird untergraben. Männer lächerlich gemacht. Ist Helen bei all dem arrogant? Ein ganzes Stück weit ja. Aber eben nicht nur – die Protagonistin ist eben nicht einfach eine weibliche Kopie eines arroganten Macho-Arsches. Nö, sie ist in ihrer ganzen Rabiatheit unsicher, verwirrt und suchend. Und kaum besser als ihre überforderte Eltern. Auch sie ist so auch sich selbst konzentriert, dass sie nicht einmal weiß, was ihr Vater von Beruf macht. Klasse!
Wie kann so was enden? Es endet wieder vergleichsweise banal, mit einem Happy-End nämlich. Helene nabelt sich von den Eltern ab und findet im Krankenpfleger der Proktologischen Abteilung einen Freund fürs Leben und fürs Bett.
Das Ende kann ruhig verraten werden, denn die Qualität des Textes liegt nicht in der Handlungskonstruktion – die ist, wie beschreiben, wirklich eher gewöhnlich – sondern in der überzeugenden Beschreibung eines starken Frauentyps, in der Konsequenz, die Helene an den Tag legt bei ihrer Suche nach Liebe und Selbstständigkeit. Mein Fazit: lesen!