April-Auslese: Katja Petrowskaja „Vielleicht Esther“

Ein schmales Bändchen, aber ein ganz großes Buch!

Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Familie über vier, fünf Generationen. Und schreibt gleichzeitig über das Erzählen von Geschichte.

Wie irrwitzig, dass ihre Vorfahren Taubstummenlehrer waren. In dieser Doppelrolle desjenigen, der nicht alle Sinneseindrücke hat, um das Überlieferte aufzunehmen und dessen Sprache nicht genügt, das zu erzählen, was erzählt werden soll, befindet sich auch die Autorin – und findet dabei doch eine ungemein reizvolle Sprache und gedankliche Tiefe.

Der Text zerfällt in viele kurze Kapitel – so wie die Geschichte ihrer Familie und Mittelosteuropas im 20. Jahrhundert in verschiedenste Teile zerfallen  ist. Kann daraus eine Bild entstehen? Nie so, wie bei einem lückenlosen Puzzle. Aber dank der  Anstrengung und Akribie der Autorin entsteht eine Art Patchwork, kein geschlossenes Gesamtbild, aber eine weitest mögliche Rekonstruktion. Wie gültig die Rekonstruktion ist, das bleibt offen, dann die Überlieferung bleibt stets mit einem Fragezeichen behaftet. Nicht einmal der Name einer der Urgroßmütter ist sicher, titelgebend wird ihr Name als „Vielleicht Esther“ in den Text aufgenommen. Und so ist am Ende des Textes das Fragezeichen hinter der Familiengeschichte zwar nicht zu sehen, aber, genau wie im Titel immer noch mitzudenken.

Petrowskaja findet ein schönes Bild für das Weitergeben von Geschichte(n): die Taubstummenlehrer ihrer Familie nahmen das Ende eines Stift zwischen die Lippen, ein Schüler nahm das andere Ende in den Mund. Und so wurde die Sprache, die Geschichte von Mund zu Mund weiter gegeben, durch die Bewegung der Zunge, der Lippen – nicht nur das Hören und Sehen, wofür die Lippenbewegung eigentlich da ist, sondern durch eine viel basalere Art der Weitergabe, mit allen damit verbundenen Verständigungsproblemen.

Noch eine zweite Episode hat mich nachhaltig beieindruckt: die jüdischen Grabsteine von Kalisz: in der Nazizeit wurde der jüdische Friedhof geschändet, die Grabsteine zerschnitten und als Pflastersteine für die Straßen der Innenstadt verwendet – mit der beschrifteten Seite nach unten. Im Nachkriegspolen wurde die Straßen bei Bauarbeiten aufgerissen, die Pflastersteine zum Teil falsch wieder eingesetzt – mit den hebräischen Schriftzeichen nach oben. Zweimalig umgepflügt liegen nun Bruchstücke von Zeichen auf der Straße und sind kaum mehr lesbar, ohne sinnhaften Zusammenhang. Und Tag und Nacht fahren Autos darüber hinweg und jedes radiert ein wenig mehr die Buchstaben aus. Kollektive Vernichtung der Geschichte.

Wer Polen, die Ukraine ein wenig kennt, der wird noch mehr Freude an diesem Text haben. Doch auch jemand ohne Bezug zu Mittelosteuropa kann Gefallen an diesem tiefgründigen Text finden, denn „Vielleicht Esther“ ist ohne jede Einschränkung ein ganz starker Text und kommt in meine lebenslange Besten-Auswahl.